306 Die landwirtschaftlichen Wissenschaften. X. Buch.
sem Biertel entfielen 1911 rund 2½8 Milliarden Mark auf sogenannte Kolonialprodukte, das
istknapp ½ von Deutschlands Gesamtbedarf landwirtschaftlicher Stoffe, und 1 1/2 Milliarden
Mark, das ist rund ½/10 von Deutschlands Gesamtbedarf landwirtschaftlicher Stoffe, auf Er-
zeugnisse des gemäßigten Klimas, welche der heimische Boden zurzeit noch nicht zuliefern ver-
mag. Diese Zahlen zeigen uns klar und deutlich, wo und wie uns der Schuh drückt, und weisen
der deutschen Landwirtschaft den Weg, der uns zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit von an-
deren Ländern führt. Besonders erkennen wir aber auch, wie sehr unser Volk schon jetzt
Bodenerzeugnisse der Tropen und Kolonien benötigt, und welche hohe Aufgabe unseren
Landwirten in unseren Kolonien gestellt ist. Bis jetzt konnten diese erst zu einem nur sehr
geringen Teile in unseren Kolonien erfüllt werden, denn sie vermögen zurzeit noch nicht
mehr als 3—4%½ unseres Bedarfs an kolonialen Bodenerzeugnissen zu decken; für über
96% zahlen wir noch an fremde Kolonien. Aber es ist möglich, daß, wenn wir noch zwei
Menschenalter treu und beharrlich unsere Kolonien beackern und beweiden und die gleichen
Fortschritte darin machen wie in den letzten 5 Jahren, wir unser Ziel erreicht haben
werden. An geeigneten Böden und an Arbeitskräften fehlt es in unseren Kolonien nicht
und Kapital und tüchtige Beamte sind in der Heimat genügend vorhanden, um die
Kolonien damit beglücken zu können. Es ist daher wünschenswert, daß gerade der deutsche
Landwirt sein Interesse an unseren Kolonien anspornt!
Unsere koloniale Landwirtschaft hat aber auch noch die große Bedeutung für die
beimische, daß sie ihr wirtschaftlich vornehmlich in der Ernährung unserer stets wachsenden
Biehbestände zu Hilfe kommt und daß sie uns zum Dank für die vielen erprobten Lehren
der Heimat zu neuen Gedanken und Problemen anregt. Das wirkt unwillkürlich wie
ein segensreiches Ferment!
Ich habe bisher von den neuzeitlichen Erfolgen und Aufgaben unserer Landwirt-
schaft im allgemeinen geredet, ohne dabei jedesmal hervorzuheben, welchen Anteil daran
die Wissenschaft im Einzeln hat. Daher hierüber noch ein kurzes Wort!
Wissenschaftler. Früher befanden sich Theorie und Praxis der Landwirtschaft im
Widerstreit, weil sie sich gegenseitig nicht verstanden. Als aber
Albrecht Thaer gezeigt hatte, daß ein gründlicher Theoretiker auch ein tüchtiger Landwirt sein
kann, und Julius Kühn umgekehrt, daß ein gründlicher Praktiker auch als ein tüchtiger Ver-
treter der Wissenschaft Anerkennung und Ehrung finden kann, ist der iderspruch behoben.
Und so erkennt heute jeder denkende Landwirt an, daß die moderne Prazis der Wissenschaft
viel zu verdanken hat und ohne sie nicht mehr auskommen kann. Die Arbeiten der Agrikultur-
chemiker, wie Liebig, Wolff, Maercker, Kellner, König, Fleischer und Soxhlet, die von Kühn,
Settegast, Werner, Wollny, Dünkelberg, von der Goltz, Orth und mancher noch wirkenden
landwirtschaftlichen Professoren, sind so grundlegend für die Landwirtschaft gewesen, daß
man sich ihren Fortschritt ohne sie kaum denken kann. Aber auch die hervorragenden Prak-
tiker mit ihren rühmenswerten Erfolgen seien hier genannt, H. von Nathusius-Hundis-
burg, Dr. Schultz-Lupitz, Dr. W. Rimpau-Schlanstedt, Dr. Th. H. Engelbrecht - Oben-
deich, O. Cimbal- Frömesdorf, F. von Lochow- Petkus und anderer mehr, deren Wirken
in die letzten 25 Jahre fällt. Schließlich muß hier auch besonders der preußischen Regie-
1450