Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. II. Ackerbau. 313 
  
Ackerbaues ũberhaupt zugenommen hat. Auch die Reinheit und Ausgeglichenheit 
der Sorten und der angebauten Bestände hat dadurch beträchtlich gewonnen. Diese 
wertvolle Erweiterung der pflanzenzüchterischen Grundsätze, die einen Ubergang von 
der Individual- zur Familienprüfung darstellt, ist wohl am längsten in Anwendung ge- 
wesen bei der Züchtung der Klein-Wanzlebener Zuckerrübe. Mit besonderem 
Nachdrucke ist sie aber vor allem durch von Lochow-Petkus in der Öffentlichkeit be- 
tont worden und bei der Züchtung seines Roggens zur praktischen Anwendung gelangt. 
Sie ist aber jetzt in der gesamten landwirtschaftlichen Pflanzenzüchtung anerkannt und 
stellt eine der wichtigsten Errungenschaften der letzten hier behandelten Entwicklungs- 
periode der deutschen Landwirtschaft dar. 
Oiese hat ferner noch in einer anderen Hinsicht einen Fort- 
schritt in den pflanzenzüchterischen Grundsätzen gebracht in 
bezug auf größere Klarheit über die Vorbedingungen der züchterischen Arbeit. 
Während früher von England aus, zunächst besonders in der Tierzucht, das Wort 
gebraucht war, daß die Organismen, also Pflanzen oder Tiere, in der Hand des 
Züchters „wie Wachs“ wären, das nach Belieben geformt werden könnte, entweder 
mit Hilfe des Auftretens lleiner, aber häufiger Variationen oder zwar seltene- 
rer, aber großer sogen. Mutationen, hat man in der neueren Zeit immer mehr 
einsehen gelernt, daß die in der kurzen Zeit, die der menschlichen Beobachtung 
zur Verfügung steht, wirklich auftretenden Veränderungen an den Organiemen viel 
seltener sind, als man früher glaubte. Man hat vielmehr gefunden, daß bei der Bildung 
der wichtigsten neueren Züchtungen weniger das Auftreten einer Variation die Ursache 
war, als vielmehr das glückliche Auffinden einer wertvollen Form innerhalb 
eines ganzen Bestandes oder —nach JLohannsen —iin einer Population, die nach der 
richtigen Erkennung ihrer Vorzüge von den übrigen geringwertigen isoliert und in reiner 
Linie weitergebaut wurde. Man hat anzunehmen, daß in den gewöhnlichen Misch-- 
beständen, die auf unseren Feldern vorhanden sind, meistens verschieden wertvolle, 
zum Teil auch in ihren Anlagen geradezu phänomenale Individuen vorhanden sind, 
daß diese aber, wenn sie nur in einer geringen Zahl unter anderen stehen, ihre Vorzüge 
nicht zur Geltung bringen und nicht erkannt werden können. Die Lluswahl und isolierte 
Weitervermehrung der schon längst in Mischbeständen vorhandenen guten Pflanzen ist 
danach zunächst die wichtigste Aufgabe des landwirtschaftlichen Pflanzenzüchters, die 
als sogen. Formentrennung in Anwendung ist. Gelingt es mit dieser, einen guten 
Stamm aufzufinden und weiter fortzupflanzen, so führt dies in kürzerer Zeit zu einem 
praktischen Erfolge der Züchtung als der Versuch, mit Hilfe von Variationen Vor- 
züge allmählich zu steigern oder Fehler zu vermindern. Zugleich ist aber auch die Wahr- 
scheinlichkeit einer sicheren Vererbung bei den Ergebnissen der Formentrennung 
größer als bei denen der Variation, da ja bei der ersteren auf schon lange Zeit 
bestehenden Eigenschaften der Individuen aufgebaut wird, während bei der letzteren 
der erste Fortschritt gerade auf dem Auftreten von Abänderungen beruht, also auf der 
NReigung der Pflanzen, zu varü#ieren. Ist daher mit Hilfe einer Variation ein Fortschritt 
Formentrennung. 
  
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