Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
336 Die technischen Wissenschaften. X. Buch. 
  
I. Brückenbau 
Von Dr.-Ing. Th. Landsberg, Professor a. D., Geheimer Baurat in Berlin-Wilmersdorf, 
Mitglied der Akademie des Bauwesens 
Wissenschaft und Brücenbau. Buwei so verschiedenartige Begriffe, zwischen 
denen es kaum Beziehungen zu geben scheint! 
Welche Fäden ziehen sich von den GEipfeln hoher, in den Wolken thronender 
Wissenschaft zu dem tief im Tale schaffenden Brückenbauer, zwischen Athene und 
Hephaistos? Bedarf man zum Bau von Brücken einer Wissenschaft? Ist nicht der 
Brückenbau ein Handwerk, höchstens, vornehm ausgedrückt, eine Technik, die man lernen 
und ausüben kann ohne tiefere wissenschaftliche Kenntnisse? 
Solche Ansichten waren früher und sind auch heute noch in weiten Kreisen ver- 
breitet. Trotzdem die Technischen Hochschulen den älteren Schwesteranstalten, den Uni- 
versitäten, gleichgestellt sind, und das Recht haben, die Doktorwürde zu verleihen, 
können sich unsere gebildeten Stände schwer dareinfinden, die technischen Wissenschaften 
den sogenannten Geisteswissenschaften als gleichberechtigt an die Seite zu stellen. 
Ganz besonders muß unter diesen Verhältnissen der Standpunkt bewundert wer- 
den, welchen unser Kaiser in der berührten Frage einnimmt. Ee sei nachstehend ein Teil 
der Rede angeführt, welche der Kaiser gelegentlich der Einweihung der Technischen Hoch- 
schule in Danzig 1904 gehalten hat#): 
„.die ungeahnte Entwicklung, welche die deutsche Technik seit dem Beginn des 
Zeitalters der Eisenbahnen nach allen Richtungen erfahren hat, haben wir nicht zufälligen 
Entdeckungen und glücklichen Einfällen, sondern der ernsten Arbeit und dem auf dem 
festen Boden der Wissenschaft fußenden, spstematischen Unterricht an unseren technischen 
Hochschulen zu verdanken. Die Mathematik und die theoretischen Naturwissenschaften 
haben die Wege gewiesen, auf denen der Mensch in Gottes allgewaltige Werkstatt der 
Natur immer tiefer einzudringen vermag, die angewandte Wissenschaft hat diese Wege 
kühn beschritten und ist zu staunenswerten Erfolgen gelangt. Den technischen Hochschulen 
liegt es ob, theoretische und angewandte Wissenschaft zu fruchtbarem Zusammenwirken 
zu vereinigen, und zwar mit der umfassenden Vielseitigkeit, die das auszeichnende Merk- 
mal des in Deutschland entstandenen Topus dieser Anstalten bildet. Sie stellt in ihrer 
Eigenart eine wissenschaftliche Universität dar, die mit der alten Universität um so mehr 
verglichen werden kann, als ein nicht unbeträchtlicher Teil des Lehrgebietes beiden An- 
stalten gemeinsam ist. “ 
Was der Kaiser in der vorstehend wiedergegebenen Rede für die Technik allgemein 
ausgeführt hat, ist auch für den Brückenbau im besonderen richtig. Zwar wurden die 
ersten Brücken ohne wissenschaftliche Uberlegung hergestellt. Bildet doch schon ein über 
einen Bach gelegter Baumstamm oder eine Holzbohle eine Brücke einfachster Art. Auf 
Grund der Erfahrung, auch wohl aufgeklärt durch Unfälle, ging man, vorsichtig tastend, 
1) Zentralbl. d. Bauverwaltung, 1904, S. 509. 
  
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