X. Buch. V. Elektrotechnik. 569
empfänger, insbesondere die Glühlampen, nebeneinander zwischen die Leitungen ge-
schaltet werden müßten. Wie man solche Leitungen aber so berechnen sollte, daß die
angeschlossenen Lampen trotz der in den Leitungen eintretenden, mit der Zahl der ein-
geschalteten Glühlampen schwankenden Verluste gut funktionierten, darüber herrschte
noch eine heute kaum verständliche Unklarheit. Ende der achtziger Jahre erschienen
die ersten Arbeiten deutscher Ingenieure; lleine Vernachlässigungen, wie sie auch sonst
dem Ingenieur geläufig sind, nahmen dem Probleme seine vorherigen Schwierigkeiten.
Selbst verwickelte Gebilde, Retze mit förmlichen Maschen, lernte man bald behandeln,
nachdem Hochenegg, Herzog, Felbmann und andere die ersten Schwierigkeiten zu
überwinden verstanden hatten.
Die Frage, in welcher Stärke man Ströme durch Leitungen bestimmten Quer-
schnitts schicken dürfe, ohne sie übermäßig zu erwärmen, wurde lange Zeit unrichtig beant-
wortet, weil die älteren, von deutschen Phpsikern angestellten Untersuchungen vergessen
waren. Erst auf dem Umwege über Amerika wandte man sich 1889 auch bei uns wieder
einer besseren Erkenntnis zu, und der Verband Deutscher Elektrotechniker ersetzte im Fahre
1895 die alten Faustregeln durch eine für Hausinstallationsleitungen gültige Belastungs-
tabelle. Neue Tabellen wurden von demselben Verbande 1907 angenommen, und
zwar auch für unterirdische Kabel, nachdem Teich müller die Frage durch theoretische
Untersuchungen geklärt und diese später im Laboratorium von Felten & Guil-
leaume mit deren Ingenieur Humann durch praktisch-experimentelle Untersuchungen
bestätigt hatte. Dem von den Gebrüdern Hopkinson in England schon 1883 erfundenen
Dreileiterspstem, durch das der Vorteil der Spannungsverdopplung ohne Erhöhung
der Lampenspannung erreicht wurde, reihten um 1890 Siemens & Halske unter
Vervierfachung der Leitungsspannung das Fünfleitersoystem an. Die Erhöhung der
Spannung wurde aber immer dringlicher, je mehr das Bedürfnis wuchs, die Energie
auf größere Entfernungen zu übertragen. Das Fünfleitersystem konnte sich wegen seiner
Kompliziertheit nicht behaupten, sobald die Wechselstromtechnik den oben geschilderten
Aufschwung nahm und es durch ihre wundervolle Fähigkeit, die Spannung in
fast beliebigeen Grenzen hinauf- und herabzusetzen, ermöglichte, für die Leitungen hohe
Spannungen zu verwenden, während die Spannung der Stromempfänger beliebig llein
gehalten werden konnte. Die für die Leitungen dabei entstehenden Aufgaben: die theo-
retische Beherrschung der Drehstromleitungen, die wirtschaftliche Frage nach der Bedeu-
tung des dauernden Energieverlustes in den Transformatoren und ihre Folge: die Anwen-
dung von Gruppentransformatoren mit einem Sekundärverteilungsnetz, die Berücksich-
tigung von Kapazität und Selbstinduktion der Leitungen, schließlich die Konstruktion der
Leitungen — alle diese Aufgaben wuchsen mit der Ausdehnung der Leitungsnetze ins Un-
gemessene und beschäftigen die Elektrotechnik bis in die jüngste Zeit auf das eifrigste.
Und gerade auch auf diesem Gebiete steht die deutsche Elektrotechnik neben der ameri-
kanischen, die in mancher Richtung kühner und rücksichtsloser vorgegangen ist, an der
Spitze. Welche Fortschritte hier gezeitigt sind, mag durch die Mitteilung belegt werden,
daß sich die Firmen im Jahre 1891 noch scheuten, ein Kabelnetz für eine Spannung von
3000 Volt zu bauen, heute werden von denselben Firmen Mehrleiterkabel für 30 000 Volt
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