Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. V. Elektrotechnik. 573 
  
außerhalb des Kraftwerks, änderte sich das Bild ebenfalls durchaus: die Länder werden 
beute von Leitungen durchzogen, wie man sie im Zahre 1888 überhaupt nicht, und auch 
noch lange Zeit darauf nur in bescheidensten Abbildern in den Freileitungsnetzen kleiner 
Ortschaften kannte. Eiserne Leitungsmaste von 16, ja 20 und 30 m Höhe sind nichts 
ungewöhnliches; bei Flußüberkreuzungen kann man — an der Ems und der Trave — 
Türme von 75 m Höhe bewundern. Der Mastabstand wurde von rund 40 m auf 120 
bis 180 m vergrößert. Solchen Leistungen mußte eine gründliche Durchbildung der 
Berechnungsmethoden auf Durchhang und über die Standsicherheit der Maste voraus- 
gehen. Zn oder in der Nähe der Ortschaften begegnet man Unterstationen, in denen 
der Wechselstrom in Gleichstrom umgeformt wird, oder Transformatorenhäusern, 
welche die hohe Spannung auf die niedrigere Gebrauchsspannung umsetzen oder auf 
eine Mittelspannung, in der die Energie auf einen beschränkten Bezirk verteilt wird, um 
dann erst durch Transformatoren zweiter Ordnung auf die Gebrauchsspannung gebracht 
zu werden. 
Deutschland ist in dieser Entwicklung der Überlandwerke allen anderen europäischen 
Ländern weit voraus. Es wird nicht lange dauern, bis alle deutschen Länder von Hoch- 
spannungsnetten überzogen und auch die lleinsten Ortschaften mit elektrischer Energie 
versorgt sind. 
Eine natürliche Folge der ungeheuren Fortschritte auf dem Gebiete der elektrischen 
Energieübertragung war, daß man mehr und mehr dazu überging, die Kraftwerke 
am Orte der natürlichen Energiequellen zu errichten, in Flußläufen und später 
auch an Kohlengruben. Wurde es doch bald viel billiger die Energie in elektrischer Form 
als an die Kohle gebunden zu transportieren, so viel billiger, daß auch minderwertige 
Brennstoffe, wie Braunkohle und in den letzten Zahren sogar Torf wieder erheblich an 
Wert gewannen. Für den Torf schien lange Zeit überhaupt keine Verwendung in größe- 
rem Umfange mehr möglich zu sein. Das war um so schmerzlicher, als damit die Hoffnung 
fallen mußte, die Torfmoore kultivieren zu können. Heute wird eins der größten preu- 
ßischen Moore, das Wiesmoor in Ostfriesland, durch ein mitten im Moore arbeitendes 
von den Siemens-Schuckert-Werken erbautes Elektrizitätswerk ausgebeutet und mit 
der aus dem Torf gewonnenen elektrischen Energie kultiviert; andere Moore sollen folgen. 
Oieses große Kulturwerk des preußischen Staates wäre sicherlich nicht so bald in Angriff 
genommen worden, wenn nicht Kaiser Wilhelm persönlich dafür eingetreten wäre. 
Die ungeheure Entwicklung der elektrischen Anlagen hat erheblich dazu beigetragen, 
daß heute technisch-wirtschaftliche Probleme gründlich behandelt werden und dem 
technischen Nachwuchs mehr und mehr eine daraufhin gerichtete Ausbildung zuteil wird. 
Schwachstromtechnil. Ee bleibt noch übrig, einen Blick auf dasjenige Gebiet der 
Elektrotechnik zu werfen, das die elektrische Zeichen - und 
Nachrichtenübertragung umfaßt und seit 1891 gewöhnlich mit dem Namen 
Schwachstromtechnik bezeichnet wird. Für die Telegraphie sind die auf die bessere 
Ausnutzung der Leitungen gerichteten Bestrebungen, insbesondere die Erfindung von 
Apparaten, die die Telegraphiergeschwindigkeit vergrößert haben, bemerkenswert. Am 
  
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