376 Die technischen Wissenschaften. X. Buch.
freien Spiel der Kräfte das Beste erreicht werde. Der Städtebau blieb daher hauptsächlich
der privaten Unternehmung überlassen, deren Ziel nicht sowohl die Fürsorge für die
künftigen Bewohner als der größtmögliche eigene Gewinn bildet. Indessen wurden
im Laufe der Zeit die begangenen Fehler und die richtigen Grundsätze immer larer#
erkannt, und mit dem allgemeinen volkswirtschaftlichen Umschwung wuchs auch im
Städtebau die Überzeugung, daß es Recht und Pflicht der öffentlichen Gewalt sei, private
Interessen zugunsten des Gemeinwohls einzuschränken.
Grundlegende Vorgänge. Fürden Städteban als issenschaft können als Beginn
zwei Vorgänge gelten, welche kurz vor unsere Berichts-
periode fallen. Der eine bestand in den Verhandlungen des Verbandes deutscher
Archi#tekten- und Ingenieurvereine auf der Versammlung 1874 in Berlin. Die damals
großenteils einmütig beschlossenen „Grundzüge für Stadterweiterungen“ besitzen noch
heute ihre Bedeutung und sind auch teilweise in gesetzlichen Anordnungen befolgt worden.
Der zweite Vorgang aus jener Zeit war das 1876 erschienene Buch Baumeisters
„Stadterweiterungen“. Der Verfasser hat sich bestrebt, den neuzeitlichen Städtebau nach
allen vorhin genannten Aufgaben und Richtungen spstematisch zu entwickeln. Somit kann
dieses Buch füglich als die Grundlage des wissenschaftlichen Städtebaues angesehen
werden, wobei übrigens auch das künstlerische Element voll anerkannt und in verschiedenen
Beziehungen eingehend erörtert worden ist. Etwas später wurde der Städtebau zuerst
als Lehrgegenstand an einer technischen Hochschule eingeführt: Karlsruhe 1887.
Von den folgenden literarischen Erscheinungen ist vor allem Camillos Sittes Werk
„Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ 1889 zu nennen, 3. Aufl. 1901.
An bestehenden Platz- und Stadtanlagen, namentlich aus älterer Zeit, hat Sitte die
Ursachen ihrer architektonischen Schönheit in sehr anziehender Weise aufgedeckt und daraus
Regeln für neue Entwürfe abgeleitet. Indem das Beweismaterial in weiten Kreisen
bekannt und verständlich war, konnte es dem Buch einen bedeutenden Einfluß auf die
Entwicklung des Städtebaues verschaffen. Freilich trat damit unter den Nachfolgern
Sittes die Gefahr ein, die künstlerische Auffassung als die allein maßgebende anzusehen,
unter Geringschätzung von Verkehr, Hygiene usw., und die früheren Leistungen im Städte-
bau zu vergessen.
Kurz nachher erschien „Der Städtebau“ von Stübben, in 2. Auflage 1907, als ein
Teil des Handbuchs der Architektur. In diesem vortrefflichen Buch mit zahlreichen Ab-
bildungen findet sich ein reichhaltiges Material und maßvolles Urteil zum Entwerfen
von Stadtplänen. Weniger eingehend sind die Maßregeln zur Ausführung eines Stadt-
planes behandelt, die Aufgaben von Staat und Gemeinden in rechtlicher und in wirt-
schaftlicher Beziehung, in welchen doch der Städtebau fast noch mehr Schwierigkeiten
bietet und Meinungsverschiedenheiten hervorruft als bei dem Entwerfen. Diese Seiten
wurden jedoch durch Stübben bei anderen Gelegenheiten wiederholt und erfolgreich
beleuchtet.
Außer den genannten drei grundlegenden Werken hat natürlich das anhaltende starke
Wachstum der deutschen Städte noch viele weitere Forschungen hervorgerufen. Zahl-
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