Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
6 Oie Literatur. XI. Buch. 
  
Snternationalismus. Sowarf man sich —wie es überhaupt der Bewegung an Ge- 
schlossenheit fehlte— Franzosen und Russen (Dostojewski und 
Tolstoi) und Norwegern (Zbsen) und Schweden (Strindberg) in die Arme, um bei ihnen 
Gesellschaftskritik und Elenddarstellung zu lernen. Auf solchem Sumpfboden erwuchsen 
Romane wie „Die Betrogenen“, „Die Verkommenen“ (Kretzer), „Das Leben auf der Walze“ 
(Kirchbach), „Fallobst“ (Covote), „Adam Mensch“ (Conradi), „Stiefkinder der Gesellschaft"“, 
„Oie am Wege sterben“ (Land), „Schlechte Gesellschaft“ (Bleibtreu). Kunstwerke waren 
diese zumeist ins unermeßlich Breite ausschweifenden Erzählungen nicht; der ungemein be- 
wegliche, immer in Fieberhitze der „Revolution der Literatur" glühende Bleibtreu brachte 
den „Größenwahn" sogar auf 1200 Seiten; Kneipe, Spelunke und Kaffeehaus sind Ort der 
Handlung bzw. des langsamen Verfalles. Denn die Décadence ist der wesentliche Gegen- 
stand, und sie beherrschte in mannigfachen Berästelungen, wie MReurasthenie, Blasiertheit, 
pathologischer Uberreiztheit, auch viele Gemüter der ganzen Zeit. Oie „furchtbar schönen 
und gefährlichen Zeitprobleme“ und „Schrankenbrüche“ waren M. G. Conrad eine Wonne, 
und er lugte sehnsüchtig nach „zukunftträchtigen Genialitäten“ aus. Zola war für ihn wie 
für Maz Kretzer das Ideal; dieser stellte in „Meister Timpe“ (1888) die Vernichtung des 
Handwerks durch die Industrie, den Haß der Enterbten wider das Kapital, kurz das 
ganze Proletarierelend erschütternd dar; die scharfe Beobachtung des einzelnen, genaue, 
lückenlose Wiedergabe der Sinneseindrücke und der Seelenmartern ward angestrebt, 
wie Herm. Heiberg sie in „Apotheker Heinrich“ und in Erzählungen erreichte, die den 
Dämon Weib in dem blutsaugerischen, spinnen- und vampprhaften Wesen, oft peinlich 
verzerrt, oft wunderbar helläugig gesehen, darstellen. 
  
Her konsequente Naturalismus Auf der Bühne bedeutete die Aufführung der 
„Quitzows“ (1888) von Wildenbruch ein 
Ereignis;: diesen hatte studentische Zugend zu 
Anfang der 80er Zahre auf den Schild erhoben, und in dem Hohenzollerndrama gab er 
ein treues Bild von Zeit und Volk jener fernen Zeit; wollte er mit der Strömung 
schwimmend soziale Bilder der Gegenwart bieten, so ergab sich ein unerquicklicher Wider-- 
streit zwischen aufgepeitschtem Pathos und dem Mangel an Gestaltungskraft; Bleibendes 
leistete Wildenbruch in Meineren Erzählungen voll Farbenfrische und Seelenkunde. Den 
okonsequenten Naturalismus"“ mit jener photo- und phonographischen Treue, die wie 
ein Sekundenzeiger der Handlung folgt, setzten der vielgewandte Arno Holz und der weit 
echter und tiefer veranlagte Loh. Schlaf in Szene; ihre Novellensammlung „Papa 
Hamlet“ begeisterte einen jungen Schlesier, Gerhart Hauptmann, so sehr, daß er ihnen 
huldigend sein erstes Drama „Bor Sonnenaufgang“ widmete. Es war die erste Tat der 
Kevolution. Häckel und ZIbsen und Tolstoi haben Pate gestanden. Auf Zbsens „Gespenster“ 
folgte es auf der „Freien Bühne“, die glänzende Kritiker, Brahm, Schlenther, Harden, 
gegründet hatten. Die Vererbung, das „Milen“ ist das Schicksal, das auf der Säufer- 
familie lastet; die Angst vor ihr wirft den unklaren, willensschwachen Schwärmer nieder 
und zerstört ein Liebesglück, das neben all der häßlichen Wirklichkeit entzückend ge- 
schildert ist. Niemand konnte verhehlen, daß in dem Werk ein großes Talent sich 
  
im Orama. 
1538
	        
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