XI. Buch. Die Literatur. 7
ankündige. „Familienkatastrophen“ nach Ibsenschem Muster folgten, 1892 das er-
schütterndste: Zeitdrama „Die Weber“; ein großer gedrückter Volksstand ist hier der
„Held“, das Schicksal, die furchtbare Not, die im Wutschrei die Hände zum Himmecl reckt,
Gerechtigkeit heischend. Die Höhe hat Hauptmann kaum wieder erreicht; mehr episch-
lprisch als dramatisch begabt, stärker in der Anschauung als im Gedanken schwankte er
zwischen spmbolischer Traum- und Märchendichtung („Hannele“, „Versunkene Glocke“)
und naturalistisch-psochologischer Zustands- und Menschenzeichnung hin und her, er schuf
eine der besten unsere Komödien („Biberpelz“), verriet jedoch in Dramen wie „Fuhr-
mann Henschel“ und „Rose Bernd“ die Unmöglichkeit, auf Biologie und Naturmecha-
nismus eine Tragödie zu gründen, die, modern und großzügig zugleich, Ewigkeitswerte
enthielte, gleichsam der Zeit die Zunge lösend, so daß sie ihr eigenes Geheimnis kundtue.
Oie Größe der Einzelbeobachtung und der Seelenkunde ist freilich unverkenmbar („Kollege
Crampton“, „MWichael Kramer“, „Einsame Menschen"). Der Theatermann jedoch, der
geschickt auf die Instinkte der Masse seine Stücke berechnete und so den Erfolg dauernd
an sich heftete, war Hermann Sudermann („Ehre“ 88, „Heimat“ 93), der von Fran-
zosen geschulte, neuerstandene „Kotzebue“. Halbes „JZugend" und Rüderers „Fahnenweihe“
ragen aus der unübersehbaren Fülle des im einzelnen oft wirkungsvollen, im ganzen
aber verfehlten dramatischen Schaffens jener Jahre hervor, so heiß um die Palme
gerungen wurde von Hirschfeld, Rosmer, O. Ernst, Hartleben, Bahr und Schnitzler; die
Berührung mit dem Volk suchte eigentlich nur einer, Fritz Stavenhagen, und der
sank zu früh dahin.
Soziale Lprik. Oie herrschende Lyrik vor der „Literatur-Revolution“ bewegte sich
zumeist in glatten Spielmannsweisen und Schelmenliedern, in
saft- und kraftloser Lebensverhimmelung, die nichts ahnte von der wirklichen Welt, wo das
###bep itervolk der Industriestädte in heißem Fron seufzte und der Proletarier in Elend
verkam. In dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erstand aber eine Lyrik, voll
leidenschaftlichen sozialen Empfindens, wie es der Zeit der Kaiserlichen Erlasse, der Auf-
hebung des Sperrgesetzes, der großartigen Arbeiterschutzgesetzgebung, des evangelisch-
sozialen Kongresses, des Wirkens von Männern wie Egidy, Stöcker, Göhre, Naumann
entsprach. Großstadtleben mit Blumenhändlerinnen, Kellnerinnen und ODirnen, die als
„Perditae" mit Glorienschein umgeben wurden, bot die neuen Stoffe, und viel Proletarier-
schmutz wurde aufgewühlt, doch auch hier waltete ein Mißverhältnis zwischen Zorn,
Entrüstung, Mitleid und dem Unvermögen, die neuen Probleme in eine entsprechende
neue Form zu gießen. Von den Dichtern der „Modernen Dichtercharaktere" (1885)
mauserten sich die bedeutendsten; es sind jedoch nur wenige; andere gingen unter wie
Hermann Conradi, ein Typus der Zeit in der Mischung von Pathologischem und
Los vom Naturalismus! leidenschaftlicher Aufrichtigkeit, von Zynismus und
edlem Ringen, sein Inneres zu ergründen und in
voller Nacktheit darzustellen. Man suchte impressionistisch zu sehen und ging zum
Telegrammstil über, indem Holz auch eine „Revolution der Lprik“, vor allem im Tech-
nischen, vollführte und einmal wieder den NReim für abgeschafft erklärte. Doch die
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