8 Die Literatur. XI. Buch.
Toten reiten schnell! Uberraschend früh (1891) war schon der erste Ruf erschollen:
Los vom Naturalismus!“ Immer eindringlicher setzte selbst in der „Gesellschaft“ die
Kritik ein. Freilich spürten überhaupt nur wenige unter den Gebildeten etwas von den
heißen Literaturkämpfen, noch dazu, da die „Richtungen“ sich mit Autogeschwindigkeit
ablösten.
Hie 90 er Fahre. So wollte man bald sich nicht mehr mit einem engen Ausschnitt
aus der Außenwelt begnügen, sondern begann wieder in sich
selbst hineinzuhorchen und die Poesie zum Ausdruck des Innenlebens, des Zusammen-
rinnens von Seele und Welt zu erheben; man wollte fühlen, nicht bloß sehen und
abschreiben, man wollte lieben, nicht hassen oder bloß logisch und mathematisch be-
trachten und messen, man wollte ein Leben in den Dingen suchen, das man nachleben
könne, das Geheimnis, das in ihrem Grunde webt, ergründen. So ward alles Sinnliche
zum Sinnbilde ewiger Beziehungen. —
Ein Extrem löste das andere ab; Franzosen
(Verlaine) und Belgier (Maeterlinck) und
Italiener (d'Annunzio) wurden Führer in die Zauber- und Zrrgärten dieser Nervenkunst.
Die Maske des Abnormen, Müden, von Krankheitsstoff Belasteten galt als vornehm;
war die Milieukunst in die Breite gegangen, so suchte man nunmehr in die Tiefe zu
dringen; an Stelle des Demokraten trat der Aristokrat der Lebensführung. Man
suchte wieder Pathos und Anmut und Würde, schwelgte in Farben und Tränen und
Träumen und Ekstasen, in Naturtrunken- und versunkenheit.
Ooch dies tiefe Natur- und Seelengefühl und das Verlangen, davon Kunde zu geben,
schärfte zum mindesten das Werkzeug des Geistes, die Sprache, und verfeinerte die
Biegsamkeit der Ausdrucksmittel für das Geschaute und Erlauschte.
Symbolismus und Neuromantik.
Und da ging ein Stern über der Zugend seiner
Zeit auf, leuchtend und tröstend, verführend und
betörend, die russischen und nordischen Revolutionäre in Schatten stellend: Friedrich
Lh#tzsche. Das souveräne Individuum, der „Übermensch“ ward verkündigt. IZn den
nur zu gut bereiteten Boden warf Nietzsche den Samen seiner Umsturzideen, und die
Seelen brannten in der Glut seiner Pamphlets wider Christentum und Moral. Was
Stirner, Schopenhauer, Hartmann, Nordau gepredigt hatten, das ward nun durch Aietzsche
vollendet und gekrönt. Die mechanische Evolution bietet die Grundlage der Welterklärung;
alles Geistige ist nur Naturmechanismus, Moral eine Erfindung blöder Geister oder ein
Gewohnheitsrecht, freier Wille eine Selbsttäuschung; freie Liebe muß die Schranken der
Gesellschaft durchbrechen; Pflicht ist Plage, Baterlandsliebe ein Wahn, die Welt eine
große Lüge; wer die Gewalt hat, ist Herr. Was in der Kunst der Impressionismus, in
der Wirtschaftspolitik der Sozialismus, das ward auf sittlichem Gebiet der Zmmoralis-
mus. „Hinter der blutfarbenen Internationalen taucht ein schwarzer Schemen aus, ihr
Kind zugleich und ihr Henker — sein Richtschwert aber heißt: das souveräne Indivi-
Das „souveräne Individuum“.
1540