Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
10 Die Literatur. XI. Buch. 
  
wie er es in schönem Zdealismus im Dezember 1901 ausgesprochen hat, im Anblick der herr- 
lichen Uberreste aus der alten Uassischen Zeit das Gefühl, daß in ihnen, wie in der All- 
mutter Natur, ein ewiges Gesetz walte, das Gesetz der Schönheit und Harmonie, und 
über dieses dürfe die Kunst sich nicht hinwegsetzen. Er sprach vielen Zeitgenossen aus 
der Seele mit den Worten: „Wenn die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, nichte weiter 
tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, als es schon ist, dann verfündigt sie sich 
damit am deutschen Volk. Die Pflege der Ideale ist zugleich die größte Kulturarbeit, 
und wenn wir hierin den andern Völkern ein Muster sein wollen, so muß das ganze Volk 
daran mitarbeiten, und soll die Kultur ihre Aufgabe voll erfüllen, dann muß sie bis in 
die untersten Schichten des Volkes hindurchgedrungen sein. Das kann sie nur, wenn 
die Kunst die Hand dazu bietet, wenn sie erhebt, statt daß sie in den Rinnstein nieder- 
steigt.“ 
Der Keiser, der inmitten des pulsierenden Staatslebens stehende Mann, der das 
Steuer fest packt, er, der Zäger und Seemann und Soldat, konnte keinen Geschmack an 
dem femininen Zug vieler Isthetenseelen oder an den Ausgeburten einer kraftlosen, 
müden Kunst und ihrer Lebensverneinung und Lebensverachtung finden. Wir müssen 
es mindestens verstehen, wenn er Hauptmann den Schillerpreis versagte. 
Ooch gar manche alte wackere Künstler lebten 
auch noch in dem neunten FJahrzehnt des 
19. Fahrhunderts, wenn die heiße Zugend sie 
auch totgeschlagen zu haben meinte. Auch waren die Stürmer durchaus nicht einig, 
wer auf der Strecke bleiben und wer noch weiter leben sollte. Nach und nach aber bildete 
sich die bessere Erkenntnis für das Wahre und Große; wie in der Musik Wagners Schaffen 
als eine der größten Kulturtaten deutschen Geistes begriffen und empfunden wurde, so 
schied man auch in der Poesie allmählich mehr und mehr Echtes und Unechtes. 
Die Dichtung ist wie das Meer; unablässig kräuseln sich die Wellen, vom Winde leise 
bewegt, oder die Wogen brausen im Sturm; doch die Tiefe bleibt ungerührt, unergründ- 
lich, und der Himmel sendet Sonnenlicht und Sternenglanz am dauerndsten hinab in 
Frieden und Stille. Die Tagesgrößen führt der Tag herauf, und der Tag nimmt sie 
wieder hinweg, und ihre Spuren verwischen sich rasch. Die wahrhaft Großen aber sind 
in der Ewigkeit verankert. Ihr Schaffen kann verkannt, ihr Ruhm verdunkelt werden; 
sie sterben, vielleicht zu spät gewürdigt, doch die Ewigkeitswerte, die sie in selbstsicherem 
Stolze in ihrer Brust hegten, verbleiben der Menschheit unverlierbar. Sterne zweiter 
Größe leuchteten auch noch über dieser Epoche fort, obwohl ihr Hauptwerk getan war 
(wie etliche „Münchener“, wie ferner Spielhagen, Friedr. Wilh. Weber, der zum Haupte 
einer sehr lebhaften katholischen Literaturbewegung erhoben wurde). In Wahrheit aber 
entdeckt wurden auf dem Gebiete des Dramas erst jetzt Hebbel und Ludwig. 
Große der älteren Generation 
wurden erst jetzt gewürdigt. 
  
  
Friedrich Hebbel. Oie herbe Weltanschauung Hebbels ist weit entfernt von Be- 
schönigung und Verhimmelung, wenn er auch als echter Dichter 
wie die großen griechischen Tragiker den Stoff des Tatsächlichen unter das leben- 
  
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