Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XI. Buch. Die Literatur. 1 
  
spendende Licht einer Idee rückt. Er ist durch und durch Dramatiker, eine schroffe nor- 
dische Mannesgestalt, ein grübelnder Kopf, der das leidenschaftliche Herz wie bei sich 
selbst, so auch bei seinen Helden zurückdrängt. Sein „Pantragismus“, d. h. die 
Überzeugung des tragischen Grundcharakters alles Geschehens in der Welt, ruht 
auf der philosophischen Zdee des Zwiespaltes (Dualismus) zwischen Einzelwillen 
(Sndividuum) und Weltwillen (Naturnotwendigkeit, Naturgesetz). Kraft setzt sich 
in der Tragödie gegen Kraft; die Maßlosigkeit hebt sich selbst auf; der einzelne 
geht unter, die Zdee, für die er stritt, triumphiert. Das Versöhnende liegt darin, daß 
der einzelne in tapferem Kampfe erliegt und die höhere Macht (nicht der Gegen- 
partei, sondern) der sich durchsetzenden, die Gegensätze vereinenden Zdee anerkennt, ja 
stolz ist, ihrem Sieg vermittelt zu haben. Das Drama — sagt Hebbel in kllarem Bilde — 
stellt die beideen Kreise auf dem Wasser dar, die sich eben dadurch, daß sie einander entgegen- 
schwellen, zerstören und in einem großen einzigen Kreise, der den zerrissenen Spiegel 
für das Sonnenlicht wieder glättet, zergehen. — Die Alten durchwandelten, so lautet 
ein anderes, Höchst bezeichnendes Wort, mit der Fackel der Poesie das Labprinth des 
Schicksals. Wir Neueren suchen die Menschennatur, in welcher Gestalt der Verzerrung 
sie uns auch entgegentrete, auf gewisse ewige und unvergängliche Grundzüge zurück- 
zuführen. Der Dramatiker soll der Menschheit das Bild ihres edleren Selbst vorhalten 
und ihr zu klarerem Selbstbewußtsein über sich und das Ewige in ihr verhelfen. — Solche 
Gedanken brechen sich endlich verheißungsvoll auch bei heutigen Dramatikern allmählich 
Bahn. Auch die herbe Schönheit, die ernste Weihe und Wucht der Hebbelschen Lpyprik 
ist erst unserer ZGeit aufgegangen. 
Otto Ludwig. Otto Ludwig galt eine Zeitlang als ein gleichberechtigter Neben- 
buhler Hebbels. Bei näherer Betrachtung jedoch ergibt sich, daß er 
als ein wesentlich episches Talent sich vergeblich mühte, über den auf natürliche Enge 
eingeschränkten poetischen Realismus hinweg zu der „idealen Tragödie'“ emporzugelangen. 
Seine dichterische Natur leistet das Größte in der Verlebendigung und Plastik des ein- 
zelnen; die großzügige, einwandfreie Fügung eines dramatischen Aufbaus war ihm 
nicht gegeben. Er mühtesich, dem „einzigen Shakespeare“ es gleichzutun und „das Poetische 
und Theatralische innigst mit dem Charakteriftischen zu verbinden“, und Herrliches hat er 
darin geleistet; mehr und mehr jedoch überwucherte auch bei diesem Talent die Erkenntnis 
(Theorie)h die künstlerische Kraft; deren Selbstzersetzung bezeugen die „Shakespearestudien“. 
In der Oorfidplle feierten Ludwigs poetischer Realismus und sein feiner Humor die schön- 
sten Siege und weckten reichste Nacheiferung. 
  
Auf dem Boden der Lprik und Novelle wurde 
Eduard Mörike erst von Storm und seinen Freunden 
auf den rechten Platz hinter Goethe gesetzt, und erst 
nach ihren 70. Geburtstagen fanden Storm und Groth die verdiente Würdigung:; 
Keller und Meyer und Fontane und Marie v. Ebner, Greif und Hepyse schufen 
rüstig weiter; Spitteler wurde nicht nach Verdienst gewürdigt, voll entfalteten sich 
Die Ewigkeitswerte der 
älteren Kunstrichtung. 
  
  
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