XI. Buch. Die Literatur. 1
spendende Licht einer Idee rückt. Er ist durch und durch Dramatiker, eine schroffe nor-
dische Mannesgestalt, ein grübelnder Kopf, der das leidenschaftliche Herz wie bei sich
selbst, so auch bei seinen Helden zurückdrängt. Sein „Pantragismus“, d. h. die
Überzeugung des tragischen Grundcharakters alles Geschehens in der Welt, ruht
auf der philosophischen Zdee des Zwiespaltes (Dualismus) zwischen Einzelwillen
(Sndividuum) und Weltwillen (Naturnotwendigkeit, Naturgesetz). Kraft setzt sich
in der Tragödie gegen Kraft; die Maßlosigkeit hebt sich selbst auf; der einzelne
geht unter, die Zdee, für die er stritt, triumphiert. Das Versöhnende liegt darin, daß
der einzelne in tapferem Kampfe erliegt und die höhere Macht (nicht der Gegen-
partei, sondern) der sich durchsetzenden, die Gegensätze vereinenden Zdee anerkennt, ja
stolz ist, ihrem Sieg vermittelt zu haben. Das Drama — sagt Hebbel in kllarem Bilde —
stellt die beideen Kreise auf dem Wasser dar, die sich eben dadurch, daß sie einander entgegen-
schwellen, zerstören und in einem großen einzigen Kreise, der den zerrissenen Spiegel
für das Sonnenlicht wieder glättet, zergehen. — Die Alten durchwandelten, so lautet
ein anderes, Höchst bezeichnendes Wort, mit der Fackel der Poesie das Labprinth des
Schicksals. Wir Neueren suchen die Menschennatur, in welcher Gestalt der Verzerrung
sie uns auch entgegentrete, auf gewisse ewige und unvergängliche Grundzüge zurück-
zuführen. Der Dramatiker soll der Menschheit das Bild ihres edleren Selbst vorhalten
und ihr zu klarerem Selbstbewußtsein über sich und das Ewige in ihr verhelfen. — Solche
Gedanken brechen sich endlich verheißungsvoll auch bei heutigen Dramatikern allmählich
Bahn. Auch die herbe Schönheit, die ernste Weihe und Wucht der Hebbelschen Lpyprik
ist erst unserer ZGeit aufgegangen.
Otto Ludwig. Otto Ludwig galt eine Zeitlang als ein gleichberechtigter Neben-
buhler Hebbels. Bei näherer Betrachtung jedoch ergibt sich, daß er
als ein wesentlich episches Talent sich vergeblich mühte, über den auf natürliche Enge
eingeschränkten poetischen Realismus hinweg zu der „idealen Tragödie'“ emporzugelangen.
Seine dichterische Natur leistet das Größte in der Verlebendigung und Plastik des ein-
zelnen; die großzügige, einwandfreie Fügung eines dramatischen Aufbaus war ihm
nicht gegeben. Er mühtesich, dem „einzigen Shakespeare“ es gleichzutun und „das Poetische
und Theatralische innigst mit dem Charakteriftischen zu verbinden“, und Herrliches hat er
darin geleistet; mehr und mehr jedoch überwucherte auch bei diesem Talent die Erkenntnis
(Theorie)h die künstlerische Kraft; deren Selbstzersetzung bezeugen die „Shakespearestudien“.
In der Oorfidplle feierten Ludwigs poetischer Realismus und sein feiner Humor die schön-
sten Siege und weckten reichste Nacheiferung.
Auf dem Boden der Lprik und Novelle wurde
Eduard Mörike erst von Storm und seinen Freunden
auf den rechten Platz hinter Goethe gesetzt, und erst
nach ihren 70. Geburtstagen fanden Storm und Groth die verdiente Würdigung:;
Keller und Meyer und Fontane und Marie v. Ebner, Greif und Hepyse schufen
rüstig weiter; Spitteler wurde nicht nach Verdienst gewürdigt, voll entfalteten sich
Die Ewigkeitswerte der
älteren Kunstrichtung.
1543