12 Die Literatur. XI. Buch.
Heinrich Seidel und Hans Hoffmann, und Wilhelm Raabe, der ehrwürdige Alte
mit dem unverwühstlichen Herzen, empfing auch erst, als sein Tagewerk zur Rüste ging,
den längstverdienten Dank der Nation. — Welche Güter nun übermittelten diese be-
gnadeten Geister denen, die in den letzten Zahrzehnten sich mit wahlverwandter Seele
oder erst allmählich bezwungen in ihre Dichtung versenkten? Die älteren unter ihnen
haben das Erbe einer großen Zeit (Klassizismus und Romantik) in unsere Tage bin-
übergerettet, sie haben in unverfälschtem Künstlertum nur ihrem Genius gehorcht,
unbekümmert um das Tagesgeschrei; der Wirklichkeit gaben sie ihr Recht und beseelten
doch den Stoff und prägten der Sprache den Stempel ihres Geistes auf; auch sie haben
tiefes soziales Empfinden, und leidenschaftliche Töne der Liebe und des Hasses und des
Zornes sind ihnen nicht fremd; manche von ihnen sind arm, von Sorgen umdrängt,
durch das Leben gewallt; aber Schmerzen sind Freunde, sie vertiefen die Seele, und
so schürften sie, die Reichen, Gold aus ihrem Innern und streuten es aus, in freigebiger,
wenn auch leidvoller Wonnez; sie sind von heißer Liebe zur heimischen Scholle, zum großen
Vaterlande durchdrungen; sie sehen unerschrocken der Sphinx des Lebens ins dunkle Auge;
sie kennen die Schwächen der Menschen und freuen sich trotz alledem der Welt und bejahen
mit sieghaftem Humor die süße Gewohnheit des Daseins. Denn was ist Humor?
Humor ist Weltanschauung, ja Weltüberwindung durch die Kraft des Gemüts, durch
Weltliebe, daher dem Naturalismus sast ganz fremd. Seine Formen sind sehr mannig-
fach. Am sonnigsten ist er bei Keller ein wahrer Seelentrost, mag er seinen
„Grünen“ auch durch Leiden erst zum Ziel führen. In deutscher Sprache gibt es nicht
viel Herrlicheres an Sprachgewalt und Süße und Milde und Güte des Herzens als seine
„Legenden“. Auch bei Storm spielen überall freundliche Lichter des Humors hinein; auch
sein Herz war „nicht umzubringen“; er verzweifelte auch in trübster Zeit nicht an der
Zukunft seines Vaterlandes, und was er „für seine Söhne“ schrieb, das kann auch
heute noch deutscher Zugend als Leitstern zu echtem Mannestum voranleuchten.
Wilhelm Naabe. Raabe ist unter den Großen, die schon im fünften Zahrzehnt
des 19. Zahrhunderts zu schaffen begannen, uns am längsten
erhalten geblieben, und viele von uns wallfahrteten zu dem Alten in Braunschweig, wie
einst mit Tausenden zu dem Alten im Sachsenwalde. Es ist ein Zeichen innerer Gesundheit
unseres Volkes, daß unter allen Ständen, Berufsklassen und Parteien die Anhänger-
schaft für Naabe wächst, daß sich überall Raabe-Gemeinden gebildet haben und somit
aus der Erinnerung an ihn noch eine werbende Kraft ausgeht. Er ist wie Storm und
Keller zum „Studium"“ geworden; nicht bloß auf den Universitäten, sondern allüberall
gräbt man in seinen Werken, um in die tiefen Schächte der Raabe-Weiesheit einzudringen.
Er ward noch alt genug, um die Anfänge davon zu erleben, um beim Abendgang
die wärmenden Sonnenstrahlen, nicht eitlen Ruhmes — auf dessen Zeichen pfiff
er —, sondern echten Verstehens und tiefer Liebe zu spüren, so daß ihm im Winter
seines Lebens doch eine „lichte Weihnachtsstube“ zuteil wurde. Möchte er Recht
behalten mit dem Wort: „Wir sind nachdenklich deutsches Volk, und es ist kein anderes,
das so gut und ehrfurchtsvoll mit den Toten umzugehen weiß.“ — Bei Raabe ist alles
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