XI. Buch. Die Literatur. 15
episch. Andererseits ist das Wesen Martin Greifs rein lyrisch; in Naturbildern zeigt er
eine goethische Einfachheit und wundervolle Zartheit; für das Orama fehlte es ihm doch
an Wucht, Kraft, Leidenschaft. Klaus Groths Größe war im „Quickborn“ erschöpft.
Der wird aber auch ein lebendiger Quell bleiben, und eine reiche plattdeutsche Zeit-
schriftenliteratur verjüngt sich an ihm unablässig.
Zm Norden bhielt das Erbe des Reuterschen Humors in seiner naiven Volkstümlich-
keit Heinrich Seid el fest, der vom Zahre 1888 ab mehr und mehr Liebe in allen Kreisen
gewann, besonders mit seinen Leberecht Hühnchen-Geschichten; mit ihm wetteiferten in
Plaudereien, Scherz- und Kindergedichten Zohannes Trojan und Viktor Blüthgen.
Schwerer wog der Pommer Hans Hoffmann, im Reichtum seines Humors bald Raabe,
bald Reuter sich nähernd, ein feiner Künstler, eine harmonische Persönlichkeit, ein echter
Freudenbringer und Trofstspender; auch an Kraft und Farbe fehlt es seinen Novellen nicht.
Ooch in den neunziger Jahren verdunkelte ein Schleswig-Holsteiner, gehoben von
der Naturalismus-Bewegung, alle übrigen in Nord und Süd: Detlev v. Liliencron.
„Unter flatternden Fahnen“ nannte sich die erste Neihe
seiner „Kriegsnovellen“ (1888), doch daß in diesen sich ein
sieghaftes Talent von stürmischer Kraft ankündige, ahnten nur die wenigen, die schon die
„Adjutantenritte“ (1883) mit Staunen und Bewunderung begrüßt hatten. Denn
solche schneidige Frische, solch scharfes Zupacken, solche kecke Freilichtmalerei hatte es in
der deutschen Lprik noch nicht gegeben. Hier war eine Revolution der Lyrik in Wirklich-
keit gegeben, so sehr auch Liliencron an die gute alte Uberlieferung, an Storm, an-
knüpft. Radikales und Soziales mischt sich bei ihm mit Königstreue und Junkertum,
und Sinnenfreude mit Melancholie. Er hat mit den Dämonen seines Innern
gerungen, und aus dem gärenden Mofst ward klarer Wein. Den „Impressionen“ seiner
Heimat gab er sich mit den scharfen Sinnen des Zägers und Soldaten hin, doch auch
grausige Visionen wußte er mit packender Gewalt hinzustellen; am höchsten stehen die
Kriegsnovellen und Balladen; unausgeglichen wie er selbst, wie seine Zeit, ist das
genialste Werk: „Poggfred“; es begeistert und entrüsftet, entzückt und ernüchtert
zugleich. Liliencrons Geistigkeit enträt der Tiefe. „Irgendein Furchtbares steht über uns,
das Schicksal, dem keiner entrinnen kann, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“
Doch auch er spürte: „Es ist ein unverkennbares Zeichen unserer Zeit, daß die Menschen
wieder zur Religion zurück wollen. Wer wird sie führen?“
Für den Oichter, der unter den Mitlebenden allein in die Zukunft fortdauern werde,
für den berufenen Kündiger der „Zeitseele“ hielt Liliencron mit sicherer Witterung:
Richard Dehmel.
Oetlev v. Liliencron.
Nichard Hehmel. Die „Gesammelten Schriften“ (seit 1900) enthalten einen
geistigen Lebensertrag, der Bewunderung einflößt, auch wenn
man nicht immer sogleich versteht oder gar sich abgestoßen fühlt. Dehmel ist in seiner
vulkanischen Natur nicht ein Dichter für die Masse; er weiß aber genau, was ihn von
Part pour l'art, was ihn von Aietzsche trennt. Die Kunst ist ihm Lebensäußerung des
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