16 Die Literatur. XI. Buch.
ganzen Menschen; ihre Wirkung zielt auf Ausgleich des Widerstreites zwischen Ich-
gefühl und Allgefühl, Selbstbewußtsein und Selbstvergessen, auf die Erringung jenes
geistigen Allgemeingefühls, das den vom Schicksal getriebenen Einzelmenschen über
sein Schicksal erhaben macht, über inneres und äußeres. Er will Triebleben und Geistes-
leben, Welt und Herz und Gott zu einem Ringe zusammenschließen, auf der einen Seite
das Glück seiner Lust nicht zähmen, auf der anderen sein Selbst erziehen und zügeln. Ein
starkes Pathos und ein tiefes Ethos sind in diesem wahrhaft männlichen, energievollen
Geiste vereint. Liebes- und Naturlieder von bezauberndstem Rhythmus hat er gesungen,
und die sozialen zeigen die Uberwindung der Tendenz und den hohen Flug zu reiner
Kunst. „Zwei Menschen“ ist ein Epos von großartigem Aufbau, von Sprach- und
Bildergewalt; nur schade, daß Romanhaftes und Brutales es entstellt. Hier ringen zwei
Menschen, nachdem sie sich gesucht und gefunden haben, aus dem engen Zchgefühl
zum Weltgefühl empor, indem sie sich selbst überwinden. Wie überall sucht Dehmel
auch im Drama neue Wegez er sucht das Tragische zu läutern, indem er an die Stelle
der Frage: Was ist uns das Leben? die andere setzt: Was sind wir dem Leben wert?
Und ist das nicht eine herrliche Mahnung für unsere selbstsüchtige Zeit?
Moderne Lprik. Wie Kometen einen langen Sternenschweif ziehen, so hatten auch
die bedeutendsten Lyriker der Zeit, Liliencron und Dehmel, eine
große Schar begeisterter Zünger. Die einen sangen fröhliche, sonnige Weisen, wie Bierbaum
und Hartleben, die anderen sind grüblerischer oder still ironischer oder den Kosmos in Be-
wegung setzender Art (Thr. Morgenstern, Evers, Hille, Mombert); nur wenige rangen sich
zu einem so abgeklärten Künstlertum hindurch wie G. Falke, Herm. Hesse, Schaukal, Ric.
Huch, Isolde Kurz. Auch „Satanskinder“ tauchten auf, „Naturalisten der nackten Seele“
(Przoybpszewski), und enthüllten das Wesen der Décadence: sie ist die zitternde Nervosität
der Uberfeinen, eine beständige, schmerzhafte Erregbarkeit bloßgelegter Wunden, ewiges
Anschwemmen und Zurückfluten einer krankhaften Sensibilität, ein stetes Unbefriedigtsein
des Raffinements, die Müdigkeit der Uüberempfindlichen. Ein Kultus wird mit der Einsam-
keit, mit dem Selbstgenuß getrieben; das zwiespältige Ich wird in allen seinen Regungen
mit heimlichem Grausen erlebt, und mit den süßesten Tönen wird das Sterben in Schön-
beit gefeiert (Hugo v. Hofmannsthal); Trost und Begeisterung gewährt nur die Ver-
senkung in die Natur (Wille, Hille, Flaischlen); Joh. Schlafs „Frühling“ (1893) ist eine
Dichtung voll Weltseligkeit, geboren aus Hheißem Herzen, geflossen von stammelnden
Lippen. Mit der Naturmystik verbindet sich das Heimverlangen nach Religion. Wie
Hauptmanns „Emanuel Quint", so sind viele Oichter von schmerzlichsten Sehnsüchten
durchglüht und erschauern in Andacht (Rilke, Schüler, Philippi, Knodt, Benzmann).
So exklusiv auch der Kreis um Stefan George („Blätter für die deutsche Kunst“),
so marmorkühl sein Formprinzip ist, so läßt doch auch er den Traum, die Versunkenheit
in das Geheimnis der Dinge walten; dämmernde Sehnsucht, gestaltlose Trauer, unsag-
bare Stimmungen, Schattenbilder aus dem Reiche des Unsinnlichen sind der Gegenstand
einer Kunst, die allem Natürlichen und allem Volkswesen abgewandt ist. Der „Charon-
kreis“ strebt eine Erneuerung des Stils, des sprachlichen Rhoythmus an (Otto zur
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