XI. Buch. Die Literatur. 17
Linde). Wer weiß, ob mit den Formwerten sich Ewigkeitswerte verbinden? — Hoff-
nungsvolle Talente lyrischer Kunst künden sich besonders in E. Lissauer und Will
Besper an; in der Ballade hat sich zum Meister in ernster Arbeit emporgerungen
Börries v. Münchhausen, eine echte Adels- und Künstlernatur; von unmittelbarster
Begabung getragen sind die Dichtungen Agnes Miegels, und von tiefwurzelndem
Können zeugen die Balladen von Lulu v. Strauß und Torney.
Wir können die Summe ziehen: An Fähigkeit des Ausdrucks für das Feinste
und Tiefste, für das unheimlich Brütende des Innern, aber auch für das
Gesunde und Kraftvolle und Zukunftfreudige, an Bildkraft für das Ge-
schaute und Gehörte, an Rhoythmik und innerer Melodie hat die moderne
deutsche Lyprik die der früheren Zeiten vielfach übertroffen.
Um die Wende des Jahrhunderts. anwoerhöchst rerdien ne eenübermde
Erzählungskunst. stheten- und Dekadententum und schwäch-
licher Fremdländerei, daß Männer ernst
gerichteter Art und schaffensfreudiger Kraft, wie Adolf Bartels und Friedrich
Lienhard, um die Jahrhundertwende wieder zu bodenständiger, schlichter Kunft auf-
gerufen hatten; auch der Deutsche Sprachverein, 1888 gegründet, hatte das Seine
getan. Es wäre jedoch einseitig und gäbe ein falsches Bild, wollte man alles Gute,
das die Erzählungskunst in der Zeit in den verschiedenen Landesteilen emporwachsen
ließ, auf den dünnen Faden dieses engen Begriffes „Heimatkunst“ aufreihen. Ohne
zugleich „Höhenkunst“ zu sein, hat sie nur beschränkten Wert. Was kann aber erfreu-
licher und für die Gesamtheit gedeihlicher sein als die Vereinigung von Volkeschriftsteller
und Künstler! Und wieviel stählende, nährende Kraft wurde dargeboten im Norden
von Söhle, Sohnrey, Loens, Speckmann u. v. a., im Süden von Hansjakob, Rosegger,
Ganghofer, Schmidt, Zahn u. a.!
Die moderne Erzählungslit eratur sog aus der zarten lprischen Kunst und aus der
derberen gegenständlichen Darstellungsweise des Naturalismus ihre Wuorzelkraft; un-
verkennbar lebt in ihr ein zur Tiefe und zur Höhe weisender, pspchologischer Nealismus.
Worin das Drama versagte, im Zeit- und Weltbild, da setzte der Roman ein. Alle geistigen
und sozialen Nöte und Schwächen und Stärken unserer vielbewegten Gegenwart, alle
die tausend neuartigen Probleme und Konflikte einer gärenden Epoche, Ehe und Gesell-
schaft, Frauen- und Mutter- und Kindeerecht, Sittlichkeit und Neligion, Handwerk und
technische Arbeit in Stadt und Land umspannend, werden mit tiefstem Miterleben,
mit nicht geringer sprachlicher Kunst dargestellt. Eine Fülle von Romanen und Novellen
führt aber auch in ältere Zeiten zurück und nicht minder in ferne Welten, kein Noman
tapferer und wirkungsvoller zugleich als Frenssens „Peter Moors Fahrt nach Süd-
west“, keine Novellen farbenrechter als die von Dauthendey. Ee ist nicht leicht, den Ariadne--
faden durch die Labyprinthe der dem Massenbedürfnis dienenden Unterhaltungeliteratur
zu finden und die Grenze zu bestimmen, wo sie zur Kunst wird. Die Ich- und Bekenntnis-
fo#pm steht neben der zuständlichen Schilderung; die Skizze und Anekdote und die eng-
umgrenzte, doch vor- und rückwärts weisende Novelle neben dem breit ausmalenden
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