Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
18 Die Literatur. XI. Buch. 
  
Zeitroman. Neuromantisches steht neben Naturalistischem, Brüchiges neben Gesundem 
und in sich Geschlossenem; verwickelte Seelenzustände treten besonders hervor, die 
meist mit Zerschlagen des morschen Gehäuses eines verfehlten Lebens endigen und ein 
Sichverzehren in Sehnsüchten, in Erdenjammer; kaum einer stellt dies erschüttender 
dar als der Schlesier Stehr; mit dem Problem ringen auch Wassermann, Martens u. a. 
Auf den Grund der Herzen sieht in den Gestalten auf Herrenhöfen und Dorfpfarren 
kaum ein Dichter schärfer als Eduard v. Keyserling, und doch zittert durch Melancholie 
und Skepsis ein gütevolles Herz hindurch. Mit ihren Problemen und Aufgaben und 
Kämpfen begegnen uns alle Stände: der Adel und der Offizier bei v. Ompteda und 
v. Polenz, der Land- und Zuchthauspfarrer bei Hegeler, Philippi, Brausewetter, der 
Oberlehrer bei Arminius, in Verzerrung bei H. Mann, der Kaufmann bei Th. Mann 
und G. Frenssen, der Fabrikant bei Rud. Herzog, der Ingenieur und Techniker bei 
Max v. Epth und Hegeler, der Gegensatz zwischen alter und neuer Zeit, Vater und 
Sohn, bei Max Dauthendey; der Kampf zwischen Landwirtschaft und Industrie, 
die soziale Tragödie des Bauernstandes, der jahrhundertelang die stärkste Wurzel 
unserer Volkskraft war, das langsame Eleiten nach unanfechtbaren wirtschaftlichen Fall- 
gesetzen, nach kalter, mitleidloser Logik der Tatsachen ist der erschütternde Gegenstand 
vieler Romane, bei v. Polenz, Rosegger, Wilh. Fischer, Klara BViebig u. v. a. 
In der Epoche, wo Realismus und Darwinismus vorwalten, 
im „Zeitalter des Kindes“, in dem die Entwickelung zur Per- 
sönlichkeit von Nietzsche und Langbehn („Rembrandt als Erzieher“") als höchstes Ziel des 
Menschentums verherrlicht wurde, nimmt „die Geschichte einer Zugend“ einen breiten 
Raum ein; Frenssens „Zörn Uhl“ wurde das gelesenste Buch der Zeit, nicht etwa wegen 
künstlerischer Geschlossenheit, sondern wegen der außerordentlichen Sprach- und Bild- 
gewalt und dem ehrlichen Ringen mit Gott und Welt, das den Oichter noch heute ziert 
und noch schöne reife Früchte verheißt; durch lyrische Süße und Schönheit bezauberte 
Hermann Hesses „Peter Camenzind“; ihm folgten Asmus Semper, Noman Werner, 
Gottfried Kämpfer, Daniel Junt, Peter Michel, Krauskopf, Hann Klüth, Piddil Hundert- 
mark u. a. Von den zartorganisierten, zum Träumen, nicht zur Arbeit und Samm- 
lung geneigten Seelen wird der Schuldrill als Folter empfunden („Freund Hein“, 
„Buddenbrooks“, „Unterm Nad"). Dagegen führt uns in das „selige Kinderland“ 
Helene Boigt-Diederichs, doch nicht minder in das schwere Irren und Ringen des 
Frauenherzens, und Lou Andreas-Salomé und Gabriele Reuter zeichnen die Entwick- 
lung eines neuen Weibestypus. Abgründe des Lebens in Klein- und Großstadt taten 
sich in den „Tagebüchern“ einer Verlorenen und einer deutschen Schauspielerin auf. 
Ins Verbrechertum leuchtete Wilh. Speck, in die Zuchthauszelle Fritz Philippi hinein. 
Entwicklungsroman. 
  
Vor allem aber wuchert in üppiger Fülle in Nord 
und Süd der Bauern-und Dorf- und Kleinstadt- 
roman. Seine Wurzeln sind mannigfacher Art. Die Naturliebe ist die anmutigste 
Geistesblüte unserer Zeit; sie tut sich nicht mur im Leben, in Wandern und Winter- 
Dorf- und Kleinstadtroman. 
  
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