Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
20 Die Literatur. XlI. Buch. 
  
fassung atmet auch ihr Stil. — Heißes, oft den Aufbau sprengendes Temperament 
durchbebt die Werke Helene Böhlaus, die Symbolisches und Naturalistisches ver- 
schmelzen („Nangierbahnhof"). Vergängliche Schicksale an unvergängliche Größe wußte 
sie in ihren Geschichten aus dem alten Weimar zu knüpfen; ein Bekenntnisbuch seelen- 
vollster Art ist „Zsebies“. Es darf mit Recht schließen: „So bietet Isebies Spbille eine 
Handvoll Wasser aus dem unerschöpflichen Meere ihres Lebens und aus dem Meere 
ihres Leidens und aus dem Meere ihrer Liebe und ihrer Seligkeiten, das hinauf bis 
in die Ewigkeit rauscht.“ 
Wie hier Leid und Seligkeit eines Künstlerherzens sich auftun, so leuchteten in 
dessen Gründe und Abgründe Walter Siegfried („Tino Moralt"), Wilh. Schäfer („Stauffer- 
Bern“) und Bartsch („Schwammerl“-Schubert) mit vollendeter Seelenkunde hinein, 
und stille Menschen, die sich aus Haß und Unrecht nach einem gleichgestimmten Gefährten 
ihrer Innerlichkeit sehnen, die mögen bei den Lebenserinnerungen der Maler (Fechner, 
Thoma, Steinhausen) einkehren, da finden sie die Einheit von Künstler und Denker 
und Menschen, den Zug ins Große und Tiefe und Ewige. — 
Mögen also Hesse und Ricarda Huch nicht an Keller, Isolde Kurz 
nicht an C. F. Meyer, Frenssen nicht an Storm und Naabe, Keyserling 
und Th. Mann nicht an Fontane in vollem Mae heranreichen, so nähern 
sie sich ihnen doch, und wer unsere Zeitliteratur mißachtet, der verkennt 
die Besten, die sich mühen, ihr Innerstes zu enthüllen und auszuprägen 
zum Heile unserer ringenden, an vielen Schäden krankenden Gegenwart. 
Sucht man Zeiterlöser unter den gegenwärtigen Dichtern vergebens, findet man 
in ihnen Kinder einer verwickelten Zeit, deren Sphinxrätsel noch nicht gelöst ist, so muß 
man doch zugestehen, daß die bedeutendsten unter ihnen mit ihrer Kunst eine Welt für 
sich, in Gehalt und Stil, bilden. Und ist das nicht auch schon etwas Großes? 
Wiss ensch.-volkstümliche Wie die erzählende Dichtung, so steht auch die wissen- 
Prosa. — Heitschriften. schaftliche und volkstümliche Prosa auf nicht geringer 
Höhe. Mit bewundernswertem Opfermut und tief- 
dringendem Verständnis haben deutsche Verleger nicht nur neue Talente gefördert, 
sondern auch billige Volksausgaben in Massen verbreitet, gehaltvolle Werke in gediegener 
Ausstattung zu niedrigem Preise hergestellt und führende Zeitschriften gegründet und in 
kritischen Lagen gehalten. Richtung gab wie keine zweite der „Kunstwart“, von dem 
mannhaften, scharf das Echte vom Unechten scheidenden, wenn auch von starker Ein- 
seitigkeit nicht freien Ferd. Avenarius allmählich zum Kulturwart emporgehoben; 
die „Deutsche Rundschau“, „Monatsschriften“ verschiedener Art, „Türmer“, „Hoch- 
land“, „Neue deutsche Rundschau“ u. v. a. dienten unermüdlich dem Ödeal, von ver- 
schiedensten Standpunkten. So kam es, daß die ausländische Literatur zurückgedrängt 
wurde, daß in deutschen Landen viel mehr nicht nur gelesen, sondern auch gekauft wird 
als in früheren, freilich auch ärmeren, Zeiten. Der Kolportageschund findet erfolgreiche 
Bekämpfungs freilich drängt er, wortlos, mit dem Kino sich desto heftiger wieder vor. 
aDieses schädigt nicht minder die Dramatik, so daß die Bühne, die schon durch frivole und 
  
  
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