XI. Buch. Oie Literatur. 21
banale Operetten und durch Stücke, die das Sexuelle unzweideutig in den Vordergrund
schieben, arg berabgedrückt ist, eine neue schwere Gefahr erleidet.
Im Drama bleibt Hauptmann noch immer eine starke Hoffnung. Wede-
kind ist der vertrackteste von allen, Clown und Tragiker und Skeptiker,
L. Thoma der witzigste; einzelnes gelang Halbe, Dreyer, Beyerlein, Schnitzler,
Schönherr („Erde“, „Glaube und Heimat“"); kerndeutsch mutet uns Schmidtbonn an;
Eulenberg zerrt uns zwischen Erwartung und Enttäuschung hin und her. Es ist so
wundersam bei so vielen unserer heutigen Talente. Das Letzte, Undefinierbare,
der Punkt auf dem 8 feblt. Ha scheint zunächst alles vorhanden zu sein: scharfe
Beobachtung, binreißende Zdeen, glänzende Einzelheiten, und doch fehlt die wahrhaft
künstlerisch alles zusammenschließende Einheit. Riesenquadern werden gewälzt und
gerichtet, die überwölbende Kuppel bleibt aus. Sispphusgestalten voll tiefer Tragik
sind diese Talente. Sie sehen immer nur sich selbst, erleben sich selbst; sie bzw. ihre
Helden sollten die Welt in sich aufnehmen, gestalten, überwinden; sie fühlen sich aber
von ihr abgeschreckt, zurückgestoßen und spinnen sich wieder in sich selbst ein. So entsteht
eine Kluft zwischen Seele und Wirklichkeit. Aus solchem Zwiespalt können nur Dramen
der Gefühlsspannuug, keine Tatsachendramen erstehen; so kann keine Offenbarung, keine
Befreiung erzielt werden. Paul Ernst, der auch den ebenso feinen wie tiefen Roman
„Der schmale Weg zum Elück“ geschrieben, Samuel Lublinski, der früh Verstorbene,
und Wilhelm v. Scholz, der tiefsinnige Lyriker, suchten in Theorie und Tat neue Wege.
Nicht aus Nervenrausch und Wortakrobatentum eines Hofmannsthal, nicht aus Flucht
in deutsche und fremdländische Sage (Stucken, Hardt u. a.) wird das neue große
Drama hervorgehen, sondern die Entwicklung weist auf die Linie, die von Schiller über
Kleist und Hebbel führt.
Drama.
Ausblick. Auf allen Gebieten waltet Sehnsucht nach Erneuerung und Vertiefung,
—— unsere besten Dichter sind Grübler, Ningende um die höchsten Lebens-
fragen, Kämpfer um das Beste unseres Volkstums. 1905 und 1909 brachten die Schiller-
Feiern. Schiller fordert von der Jugend einen „philosophischen Kopf“ — es ist Zeit, daß
die Vorherrschaft des Sozialen und Technischen und daß der Materialismus durch Er-
fassung eines rein geistigen Weltbildes gebrochen werde. Schiller mahnt: „Kein Mensch
gedeihet ohne Vaterland“ — hinweg also mit Ubermenschentum und Kosmopoliten--
tum! Er, der männlichste unter unseren Dichtern, hat das Wort geprägt: „Der Wille
ist der Geschlechtscharakter des Menschen“ — hinweg mit Kleinmut und Verzagtheit,
hinweg mit spukhaftem, blutarmem Traumleben auch in der Dichtung! Möge national
und sittlich, männlich und tief und wahr im Geiste Schillers sich die Erneuerung voll-
ziehen! Auf das Zeitalter des Kindes folge wieder das des Mannes, wie es die eisernen
Zahre 1813/15 heraufführten; heute zerbrechen zu viele edle Talente wie Emil Gött
am Leben oder gelangen nicht zur Lebensgestaltung in vollem erstrebten Maße. Unser
Kaiser rief einst der Bonner Zugend zu: „Der feste, mannhafte Vorsatz, als Germanen
an Germanien zu arbeiten, es zu heben, zu stärken und zu tragen, durchglühe Sie! Die
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