26 Baukunst. XI. Buch.
hallen in München wurden in altchristlichem Baustile, der weite Raumspannungen
zuläßt, ausgeführt. Auf der Kunstausstellung in Dresden 1906 zeigte Fritz Schu-
macher, wie ein protestantischer, und Berndl (München) wie ein katholischer Kirchen-
raum, den neuzeitlichen Anforderungen an Raum und Schmuck entsprechend auszu-
bilden sei.
ODie kritische Erwägung der Verhältnisse
einer Kulturaufgabe zu ihrem Raum-
ausdruck führte aber auch auf anderen
Gebieten der Baukunst zu neuen oder wenigstens ausgesprochenen charaktervollen
Lösungen, als wie unter der Herrschaft des Formgedankens der Fall gewesen war.
Wallots Reichstagsbau hatte den Ton angegeben. Der tüchtigste Schüler der Berliner
Bauakademie, Ludwig Hoffmann, erbaute in den JZahren 1887 bis 1895 das
Reichsgericht in Leipzig, ein Werk, seiner Bestimmung entsprechend klar und im
Aufbau wie in den Einzelheiten vollendet fein abgewogen — mit viel Sinn für den
Wert der Flächen. Daß als Auedrucksform bei solchen und ähnlichen Bauten gern
auf klassische oder renagissancistische Formen zurückgegriffen wurde, hatte eben seinen
Grund in dem starken Gefühle für die Tradition eines Schinkel und Semper, die bis zur
Zahrhundertwende an den Hochschulen Deutschlands gepflegt wurde, wohl auch darin,
daß bei der Unzahl Aufträge, die besonders im Privatbau dem Architekten zufielen, wenig
Zeit zur rechten Durcharbeit, zum gesunden Reifen des Werkes blieb. Dem Aufblühen des
Kapitals entsprechend, zu dem sich unser deutsches Volk durch zunehmende Bedürfnisse und
durch ihre Deckungen, bei steigenden „wirtschaftlichen Energien“ (Lamprecht) auf dem Wege
des freien Wettbewerbes und der freien Unternehmung durchgeschafft hatte, war ein
großzügiges, aber vielleicht darum äußerliches und oberflächliches Bauen in das Bild der
Gegenwart getreten. ANur bedeutende Individualitäten vermochten in der Hast der Zeit
ihre Ruhe zu bewahren und dem persönlichen Formempfinden nachzugehen. Za je mehr
auf der einen Seite in nervöser Eile die Formen gehäuft wurden, um so selbständiger ent-
wickelten sich auf der andern die führenden Größen.
Hugo Licht gelang es, seinem Leipziger Rathausbau — um die Jahrhundertwende
— einen mächtig persönlichen Ausdruck zu geben. Der große Komplez ist bei allen deutsch
renaissancistischen Allüren, denen als Bekleidung ein amerikanisierender Quaderstil ge-
geben ist, durchaus vom modernen Empfinden beherrscht, mit großer schöner Massen-
verteilung, sehr kluger Ausnützung des Lageplans, feiner Konzentration der Ornamentik—
die Tradition des Rathausstils, als welche ja die deutsche Renaissance angesehen wird,
ist gewahrt, und doch paßt das Ganze in unsere Zeit der Elektrizität und des Asphaltes.
Ein starker Wille spricht aus diesem Bau, bei allem Zwange durch den stilistischen Kanon.
Wallots Geist, der in seinem letzten Werke, dem Dresdener Ständehaus, in äußerst ge-
klärter Form so schön zur Geltung kommt, beherrscht trotz der Strömungen, die noch heute
den neuen Stil katexochen suchen, die große Architektur und auch das als ganz modern
angesprochene Werk Alfr. Messels, der Wertheimbau, steht auf dem Grunde traditio-
neller Form und traditionellen Wissens. Nur die Individualität der Meister, durchdrungen
Befreiung der Herrschaft des Form-
gedankens. Individualitäten.
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