36 Baukunst. XlI. Bach.
ihr eigen; dazu kommen die vielen verwandten technischen, geschichtlichen und politischen
Wissenschaften.
Der „theoretische“ #Sdealbau, der an den technischen Hochschulen und Akademien in
den 90er Zahren besonders gepflegt wurde, und der seine Aufgabe gern dem Gebiete
des Schloß- und Kirchenbaues entnahm, hat sich in den letzten Jahren zugunsten realer
Aufgaben beschränkt. Natürlich soll auch hierbei nicht das lediglich notwendige Können,
sondern ein frohes aus der Fülle Herausgeben sich üben — Architektur im höheren, meinet-
wegen reineren Sinn getrieben werden — aber doch drängen sich von anderen Disziplinen,
besonders den tiefbautechnischen und dem Ingenieurfach her, Aufgaben heran, die den
Architekten in vollem Umfange nötig haben: es sind dies der Stabtbau und der In-
dustriebau.
Diese beiden Aufgaben ähneln zunächst einander darin, daß sie beide im Grunde
derselben Wurzel entwachsen sind: dem Zeitalter der Technik, das die Menschen in große
Zentren zieht. Die Industrie baut die Hallen, in denen Tausende von Arbeitern schaffen,
die Stadt muß gleich schleunig dafür sorgen, daß Wohnungen für die Arbeiter da sind.
Und doch wieder sind Industrie und Stadtbau ganz zweierlei, wenn sie von dem Gesichts-
winkel der Geschichte aus betrachtet werden: da stellt die Industrie etwas durchaus
Neues, Letztes, vor dem nicht ähnlich Dagewesenes dar, die Stadt aber hat eine Zahr-
tausend alte Tradition.
Nun ist dabei aber zu bedenken, daß mit dem Aufschwung des
Industrialismus in den 60er, 70er Jahren auch der Stadt eine
neue gewaltige Aufgabe zufiel, das ungeheure Wachsen der Bevölkerung, die sich vom
Lande her immer mehr in die vielversprechende Großstadt zog, in Häusern und Straßen
und Stadtvierteln zu fassen; es ist begreiflich, daß dieses unvorhergesehene Anschwellen
des unteren Bürgertums Aufgaben hervortrieb, denen keine Tradition und kein An-
knüpfen an Traditionen schnell helfen konnte. „Die Häufung wirtschaftlicher Macht an
bestimmten Punkten der gesellschaftlichen Organisation“, sagt Fritz Schumacher, „hat
stets einen entscheidenden Ausdruck in der Entwicklung der Kunst gefunden.1) Da nun
die Ursache des Wachsens der größeren und kleineren Städte Industrie und Handel waren,
sehen wir, in wie engem Zusammenhang Indusftrie und Stadtbau stehen, und wir erkennen
auch, daß um die 80er Jahre ein ganz neues Moment dem Baukünstler als A#rbeitsfaktor
auf den Tisch gelegt worden war: den Ausdruck der neuen durch die Industrie geweckten
Kultur architektonisch zu suchen.
Die Aufmerksamkeit auch weiterer Fachkreise lenkte auf den Stadtbau in den 90er
Jahren als erster bedeutender Camillo Sitten, der deutlich und klar nachwies, daß
Städte erbauen und Straßen planen mehr sei als ein geometrisch schachbrettartiges Ar-
beiten mit Reißschiene und Winkel, um den Verkehr und das Anwachsen der Bevölkerung
schnellstens unterzubringen und die Sorge um die Verwirklichung der Pläne den Bau-
und Bodenspekulanten zu überlassen — sondern daß der Stadtbau die nährende Wurzel
1) Fr. Schumacher, Streifzüge eines Architekten, Diederichs, Jena.
2) C. Sitte, der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen.
Der Stabtbau.
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