38 Baukunst. XlI. Buch.
1907 mit malerischem Erfolg ein altes dumpfes und kränkliches Stadtoviertel zu „sanieren“.
Wenn in diesem einen Falle die Romantik der Straße notwendig durch das Viertel selbst
und seine beengende Umschließung gegeben war, so erkannte man doch bald, daß für
Ne,Vschaffen die romantischen Vorbilder der alten Städte unbrauchbar waren, und daß
ganz neue Nichtlinien hier gelten mußten, die ihren Ursprung tief in dem sozialen Leben
des neuen Deutschlands haben.
Die ganze politische Durch- und Umbildung Deut-
schlands, nicht zuletzt sein Wahlrecht, räumte immer
breiteren Schichten des Volkes einen Einfluß ein auf politische Unternehmungen,
der ehedem nur Souveränen und den oberen paar Hundert zugestanden war,
das Verlangen im Volke nach „Mitregieren“ forderte geradezu logisch einen eigenen
äußeren Ausdruck, die Menge will — ausgesprochen oder unausgesprochen — ihr Bild
in der Baukunst sehen, seitdem sie einen Faktor im Exempel der Geschichte eines Landes —
und welch einen gewichtigen! — ausmacht. Der Stadtbau, im weiteren Sinne die Stadt-
verwaltung, hat einen ungeheuer komplizierten Apparat zu bewältigen, der zusammen-
gesetzt ist aus zumeist der Gegenwart entstammenden Kulturarbeiten, wie sie z. B. dar-
gestellt werden in den Anstalten für Körper- und Geistespflege (Schulen, Turnanstalten,
Bäder), für die täglichen Lebensbedürfnisse (Warenhäuser), den Berkehr, die persönliche
Sicherheit, die Armen-, Kranken- und Totenversorgungen. Wenn die früheren Zeitalter,
die Gotik, die Renaissance, das Barock, als formheischende und formbringende Zeitalter
den Kirchenstil, den Stil des wohlhabenden Kaufmannsstandes und des Städtestolzes,
den Stil des souveränen Fürsten naturgegebenerweise fanden, weil aller Sinn, alle Macht
ohne Widerspruch auf gerade diese Lebensäußerung hinauszielten und Form gewannen,
so sind es heute hundert verschiedene Strömungen, die jede für sich nach Lebensausdruck,
nach „Stil“ verlangen.
Daß bei der Schnelligkeit, mit der diese Kulturforderungen die Zeit überraschten,
die Baukunst zunächst nach den Mitteln griff, die ein akademisch gelehrter Kanon bot,
ist aus der Zeit heraus zu begreifen, und erst langsam findet die Welt von heute, die, wie
Friedrich Naumann sagt, kapitalistischer, demokratischer und mechanistischer geworden
ist, den ihr eigenen Ausdruck in der Architektur, nur langsam erfüllt sie die Sempersche
Forderung an den Stil in ihren Kunstäußerungen die Übereinstimmung darzustellen mit
ihrer Entstehungsgeschichte, mit allen Vorbedingungen und Umständen ihres Werdens.
Soziale Bauaufgaben.
Berlin ist wohl von Anfang dieser Eigenbewegung im deut-
schen Volke an der Experimentierplan gewesen. Wenn auf der
einen Seite durch Wallots einsamen Reichstagsbau, der an den Anfang einer archi-
tektonisch sich befreienden Zeit gestellt wurde, der Versuch gezeigt ist, dem staatlich neuen
und monumentalen Gedanken einen ihm eigenen großen Auedruck zu geben, so
gelang es auf der andern Ludwig Hoffmann, der seit 1897 in Berlin als Stadt-
baurat tätig ist, die oben kurz aufgezählten Neuaufgaben für die Stadtwohlfahrt in
vorbildlicher Weise zu lösen, so nämlich, daß sie in der Anlage wie im Außern deutlich
Neue Formen.
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