Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XI. Buch. Malerei und Plastik. 4% 
  
haben damals ihre selbständige Lebensfähigkeit erwiesen, besonders die Wassermalerei, da 
ihr durch die englischen Farben ein wesentlich besseres und breiteres Fundament bereitet 
wurde. Die Aquarelltechnik, die längst von den Künstlern bevorzugt war, um besonders 
interessante Farben und Formeindrücke schnell vor der Natur festzuhalten, gliederte sich also“ 
dem Bestreben der Freilichtmalerei unmittelbar an. Die Lichtfreudigkeit war derartig 
gesteigert worden, daß sie sich sogar die Graphik, die zeichnenden Künste, unterwarf. Im 
Jahre 1887 wurde in Berlin der Verein für Originalradierung begründet, und schon 
1889 war es jedermann klar, daß die malerisch wirkende Radierung die Führung unter 
den Griffelkünsten besitze. Im Zahre 1892 brachte eine Ausstellung der farbigen Kupfer- 
stiche den Wunsch nach Erneuerung dieser bedeutsamen Technik (bzw. der farbigen Radie- 
rung), und seit 1893 wurde die Lithographie (zunächst von der Federzeichnung aue) 
ebenfalls weiter entwickelt. Die Ausbildung des Steindruckes erfolgte dann besonders 
unter dem Einflusse des großflächig kolorierten altdeutschen und japanischen Holzschnittes 
und des modernen französischen Plakats. Die farbige Lithographie erkannte man, eigne 
sich ganz besonders zu einer abgekürzten Wiedergabe der Erscheinungen der Umwelt. 
Die einfache und zusammenhaltende Tönung entspricht überdies einer technischen Grund- 
forderung. In der Lithographie erstand der farbenzerlegenden Eindruckmalerei, wie 
wir sehen werden, ein weitgreifender Gegner. Oie in diesen schlichten Künstlerlitho- 
graphien beschlossene starke Empfindung und ernste Kraft wurde bereits 1900 in London 
rückhaltlos anerkannt. Der erzieherische Wert dieser Kunstblätter ruht nicht zum mindesten 
in der Tatsache, daß sie billig herstellbar sind, und deshalb ein sehr beliebter Wand- 
schmuck in den Häusern der weniger bemittelten Bevölkerungsschicht werden können. 
Erneute Betonung Seit dem Beginn der neunziger Zahre ist auch der Holz- 
der Farbe. schnitt zu neuem Dasein erweckt. Der zunächst nur leicht 
— moderne Einschlag wurde konsequent weiterentwickelt, 
so daß bereits ca. 1896 Abdrücke von stark impressionistischer, erstaunlicher Lichtkraft 
in gewaltiger Zusammenfassung und von tiefer Beseelung dargeboten wurden. Diese 
Wirkung wird technisch hervorgerufen durch eine Vereinigung des Schemas der Grenz- 
linie und der Tonschatten. Schwarz und weiß stellen sich in prachtvoller Vereinfachung 
in breiten Massen einander gegenüber. Seit kurzem feiert aber auch die Farbe in Holz- 
schnittblättern ihre Triumphe, in flächiger Behandlung oder in diffizilster Abwägung 
der farbigen Lichtwerte. Seit ca. 1896 ist ferner ein neuartiger ZIllustrationsstil im 
Entstehen, der auf der mehr oder weniger karikierenden Schilderung des Tuns und Trei- 
bens im modernen Alltag beruht. Unter Einwirkung der japanischen Zeichenkunst und 
des impressionistischen Sehens des Milieus wird die Form charakteristisch hervorgehoben, 
das Wesentliche mit der einfachen Schwarzweißwirkung oder in farbigen Orucken, die, nach 
allgemeiner UÜbereinstimmung, in ihrer Vollendung einzig dastehen, darzustellen unter- 
nommen. In ungefähr 25 Jahren hat sich also die Griffelkunst von der Stellung einer 
dienenden Kunst zu voller Selbständigkeit emporgearbeitet. Sede Provinz der Schneide- und 
Zeichenkunst besitzt heute ihre Führer. Diese Feststellung allein, daß die Graphik an Original- 
arbeiten so reich ist, darf uns mit freudiger Genugtuung erfüllen; denn dies ist nur dann 
  
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