Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
6o Malerei und Mlastik. XlI. Buch. 
  
Beliebtheit der verschiedenartigsten körperlichen Ubungen anzuschlagen. Es wurde da- 
durch dem Künstler Gelegenheit gegeben, den fast oder ganz unbekleideten Körper in 
einer Fülle von Bewegungsmotiven auf dem Wasser und auf der Erde, im Wasser und 
in der Luft zu studieren, wie nie zuvor in Deutschland. Auf der anderen Seite wurde 
das Auge der Masse der Laien unwillkürlich für plastische Werte erzogen. Diese ganz 
unmittelbare Zurückerziehung des Großstädters zur Natur kommt der bildenden Kunft 
als „Nachfrage“ zugute, denn ihr verdanken wir das stetig größer werdende Verlangen 
nach Nacktfiguren, die nicht durch literarische Anregung, sondern einzig von künstlerischer 
Formvorstellung ins Dasein gerufen worden sind. Diese stilistisch-tektonische Richtung in 
der Plastik fördert weiterhin Aufgaben, welche die Plastik in eine freiere oder engere Be- 
ziehung zu architektonischen Formgedanken setzten. Ganz vornehmlich gewann die Denk- 
malplastik. Sie erreichte dadurch den Grad geschlossener Monumentalwirkung, die in 
früheren Jahren so oft vergeblich erstrebt war. 
Es muß sogar in den Fällen, in denen Bedenken über die Qualität der Kunstwerke 
geäußert sind, zugegeben werden, daß die Verbindung von plastischen und baukünstlerischen 
Werten die bildhauerischen Arbeiten jedenfalls aus der gefährlichen Isolierung, in der 
sie sich vor wenigen Jahren durchschnittlich befanden, errettet haben. Ich möchte neben 
O a s Relief. der Denkmalkunst in diesem Zusammenhange noch die steinernen 
Brückenbauten, die Brunnenanlagen und die Friedhofkunst erwähnen, 
da sie vornehmlich auf die Behandlung des Reliefs sehr erzieherisch einwirken. Solche Auf- 
gaben zwingen besonders den Reliefbildner — ähnlich wie bei der neuzeitlichen Plaketten- 
bzw. Medaillenplastik — sich mit der architektonischen Form und mit dem eng umgrenzten 
Raum so abzufinden, daß die Komposition als selbftverständlich, die Formgebung als in sich 
harmonisch erscheint. Das Relief bildet gleichermaßen Künstler wie Laien, denn es vereint 
Gesichts- und Bewegungsvorstellungen; es zwingt den Künstler, alle Einzelformen über- 
sichtlich, also nicht „malerisch“, anzuordnen, den Beschauer, die Formen abzulesen und mit 
dem Auge abzutasten. Das Relief erzählt, wendet sich also bewußt an den Intellekt 
und als Formwert zugleich an das plastische Verständnis des Betrachters. Das Relief 
kommt weiterhin der besonderen Freude des Deutschen an der Erzählung, am Bilder- 
reichtum entgegen. Das starke Wiederaufblühen der stilistisch vorzüglich behandelten 
Flachkunst, vornehmlich in Süddeutschland, erweist diese enge Verbindung von Kunst 
und Leben. Diese gute Wirkung ist natürlich einzig bei verständnisvoller Verbindung 
von Plastik und #Alrchitektur zu erreichen. Es geschieht dies in der Tat zurzeit wieder 
mit vollem Bewußtsein der künstlerischen Zusammenhänge. Das Relief ist, wie bemerkt, 
vornehmlich als geeignet befunden, große Flächen zu beleben, aber auch die Rundplastik 
wird immer mehr von der Baukunst in ihren Dienst gezogen. Die Architektur verlangt heute 
vorwiegend eine Plastik, welche auf in sich geschlossene Wirkung, auf vereinfachte wuchtige 
Formen und eine offen zutage liegende ruhige Gesetzmäßigkeit in der Formenbehand- 
lung und Flächenverteilung ausgeht. Zeder Impressionismus im übleren Wortsinne 
soll abgestreift werden, ohne die Energie der unmittelbaren Lebensbetätigung zu be- 
seitigen. Diese Tendenz, architektonische und plastische Formwerte zu verbinden, birgt 
auf der andern Seite zweifelsohne Gefahren in sich, so daß Ubertreibungen in der ver- 
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