68 Das Kunstgewerbe. XI. Buch.
Der kühne Mut dieses Mannes setzte zunächst alle Welt in Verblüffung. In Frankreich
und Belgien, besonders aber in Oeutschland, wo schon Otto Eckmann, Obrist und
andere das radikale Ziel auf anderem Wege zu erreichen suchten, fanden sich be-
geisterte Anhänger seiner Lehre. Schien doch der Beweis erbracht, daß man wirklich
etwas Modernes schaffen könne, ohne beständig Anleihen bei der Vergangenheit machen
zu müssen. Vor allem aber war der Gedanke begeisternd, daß man es nicht mehr nötig
hatte, in mühevollem Studium sich die schwierige Wissenschaft der Stillehre anzueignen.
Man konnte ja seine Formen selbst erfinden, und jedermann war hierzu imstande, um
so mehr als Schwierigkeiten hinsichtlich der Ausführbarkeit nicht zu bestehen schienen.
Die Schranke zwischen dem fachgebildeten Zünftler und dem Laien schien endlich ge-
fallen. Wie man annahm, hatte sie viel zu lange und mit völligem Unrecht bestanden.
Zunächst begannen alle diejenigen sich der neuen Bewegung zu bemächtigen,
die sich bereits mit künstlerischen Vorwürfen beschäftigt hatten, aber bei der herrschenden
Überproduktion von dem Weiterverfolgen der ausgetretenen Geleise nicht viel versprachen.
In erster Linie die Maler, deren Phantasie durch die schrankenlosen Ideen eine gewaltige
Anregung erhielt. Bielleicht war das treibende Element nicht allein die Lust, den Farben-
und Formensinn auf einem bis dahin noch nicht betretenen Gebiet zu erproben. Es
spielte wohl auch etwas von der Vorstellung hinein, als wäre nun die Zeit gekommen,
den verloren gegangenen innigen Zusammenhang unter den Künsten wiederherzustellen.
Das Galeriebild war ja stets nur ein Notbehelf gewesen, mit dem man sich in Ermangelung
anderer Aufgaben abgefunden hatte. Die Möglichkeit der Malerei, die frühere Macht-
stellung, die auf ihrer dekorativen Kraft beruhte, wiederzugeben und sie in engste
Fühlung mit dem umgebenden Raum zu bringen, mußte als verlockende Verheißung
erscheinen. ·
Noch auf der Berliner Gewerbeausstellung im Zahre 1896 war von dieser
Bewegung, soweit sie das Kunstgewerbe direkt betraf, fast nichts zu spüren. Ein ernstes
Bestreben nach neuem und selbständigem Ausdruck zeigte hier allein die Architektur,
doch lag es wie eine Spannung in der Luft, die nur ihrer Auslösung harrte. Im selben
Jahre wurden die illustrierten Wochenschriften „Zugend“ und „Simplizissimus“ gegrün-
det, die die Träger der neuen Gedanken zu ihren Mitarbeitern zählten, und einen bis
dahin in Deutschland noch nicht gekannten Topus der HIllustrationskunst darstellten. Das
zeitliche Zusammenfallen der Gründung dieser Zeitschriften mit dem energischen Einsetzen
der Bewegung war die Ursache, daß man später dem neuen Stil, wenn auch ohne
eigentlichen Grund, den Namen „JZugendstil“ gab.
Schon auf der ODresdner Kunstaus-
stellung im ZJahre 1897 konnten die
ersten Resultate gezeigt werden, einige Zimmer, die dem neuen Programm ent-
sprechend ein durchaus neuartiges Aussehen hatten. In ihnen war das Bemühen un-
verkennbar, von dem Schema des üblichen Miethauszimmers abzuweichen und den Raum
seiner Bestimmung entsprechend, zugleich aber möglichst persönlich auszubilden. Aller-
dings konnte man der bisher gebräuchlichen romantischen Requisiten noch nicht entraten
Dresdner Kunstausstellung 1897.
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