Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
70 Das Kunstgewerbe. XI. Buch. 
  
man mehr und mehr Verständnis für diejenigen Wirkungen zu bekommen, die sich aus 
der sachgemäßen Behandlung des Materials ergaben. Man lernte einsehen, daß es hier 
weniger wie anderswo auf einen komplizierten Entwurf ankam, daß vielmehr die Stärke 
des Brandes mit der Zusammensetzung der Glasur bei einem guten Material die Wirkung 
und den Wert bedingten. Es wurden keramische Werkstätten an den verschiedensten Stellen 
in Deutschland gegründet, die unter der Leitung künstlerisch empfindender Fachleute 
eine hohe Leistungsfähigkeit erreichten. Ein ähnliches Interesse wendete man dem 
Metall und überhaupt allem zu, was infolge seiner geringeren Dimension ein gründliches 
Durcharbeiten zuließ. Mußte doch zunächst eine umfangreiche Detailarbeit geleistet 
werden, wenn eine allgemeine Besserung, wie man sie sich erträumte, jemals möglich 
werden sollte. 
Darmstädter Künstlersiedlung. In kurzen Zeiträumen folgten sich die ver- 
— schiedensten Ausstellungen, und die Zeitschrif- 
ten brachten die mannigfaltigsten Veröffentlichungen mit dem NRamen der Künstler, die 
sich der neuen Bewegung bemächtigt hatten. Zu einer gewaltigen Steigerung kam es 
aber, als der Großherzog Ernst Lubwig von Hessen eine Reihe von Künstlern 
nach Darmstadt berief, die in enger Zusammenarbeit, aber ganz nach freiem Ermessen 
an einer Reihe von Aufgaben die neuen Ideen im großen verwirklichen sollten. Der 
Sedanke einer Künstlersiedlung, in der nicht nur der Gesamtplan nach einer einheit- 
lichen Idee entworfen war, sondern jedes Haus bis ins letzte Detail von Künstlerhand 
durchgebilbet, dem darin Wohnenden eine würdige Umgebung zu weiterem fruchtbaren 
Schaffen sein sollte, war ebenso neuartig wie wahrhaft fürstlich. Er verkörperte das, 
was man sich als Höchstes von der Kunst und für die Kunst immer erträumt hatte und 
mußte zu äußersten Anstrengungen anspornen. Hier konnte alles, was an Kleinarbeit 
bisher geleistet war, zusammengefaßt und dem einheitlichen Zweck untergeordnet werden. 
Hier nahmen zum erstenmal die Gedanken einer Kultur des Wohnens, der Schaffung 
einer dem modernen Menschen angepaßten und seiner würdigen Umgebung greifbare 
Gestalt an. Hier begann auch etwas wie ein Stil sich herauszubilden, indem sich gewisse 
Ausdrucksmanieren als ein allen Künstlern gemeinsames Charakteristikum erkennen ließen. 
  
Unter Führung der Architektur hatten sich alle 
Künstler und Handwerker zu gemein- 
samer Arbeit vereinigt, und doch war recht eigentlich das Detail der Angelpunkt der 
ganzen Schöpfung. Freilich lag auch hier noch immer das Schwergewicht auf der äußeren 
Form, doch konnte das eine unbestritten festgestellt werden, daß die Bewegung nicht mehr 
die vereinzelten Versuche einer kleinen Zahl von Vorkämpfern darstellte, sondern daß sie 
anfing, in weitere Schichten vorzudringen und sich Gebiete anzugliedern, die bisher 
ihrem engeren Wirkungskreise ferngelegen hatten. Es war ja auch ein ganz folgerichtiger 
Gedankengang, daß man bei einer Neugestaltung der menschlichen Umgebung auf alle 
diejenigen Dinge Einfluß zu gewinnen suchte, mit denen man überhaupt in Berüh- 
rung kam. 
Erweiterung des Wirkungkreises. 
  
1602
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.