XI. Buch. Das Kunstgewerbe. 71
So wandte man, indem man Plakate machte und Bücher ausstattete, dem einfachen
Schriftsatz und der Type sein Augenmerk zu und kam von der Stickerei und dem Stoff-
musterzeichnen zu einer Neformierung und künstlerischen Ausbildung der Frauenklei-
dung. Vom Einzelmöbel war man zum Wohnhaus übergegangen, und so war es nur ein
Schritt weiter, daß man zu diesem auch den Garten hinzufügte und weiter zu einer
Reformierung der Gartenkunft überhaupt kam. Englische und deutsche Veröffent-
lichungen vom englischen Hause hatten die Blicke auf die vorbildlichen Leistungen jenseits
des Kanals gelenkt, so konnte man leicht ermessen, wie weit man bei dem Bau eines
Wohnhauses in der Beeinflussung der Ausführenden zu gehen hatte und sah, daß man
nicht auf halbem Wege stehenbleiben durfte. Zum guten Hause gehörten gute Räume,
und zum guten Raum gute Ausstattungsgegenstände. Zum guten Hause gehörte aber
auch eine gute Umgebung, sowohl die engere wie die weitere. Man mußte also außer-
dem das Grundstück gut durchbilden, aber auch die Straßen und den ganzen Ort nach
richtigen Gesichtspunkten anlegen. So ging man vom Einzelhause weiter zum Städte-
bau und damit zu den größten Aufgaben, die der angewandten Kunst überhaupt gestellt
werden können. Es waren das allerdings Gebiete, an die sich der Kunstgewerbler im
engeren Sinne — denn dieser hatte sich inzwischen aus dem Maler entwickelt — nicht
mehr heranwagen konnte, doch lag es eben an der Eigenart der Bewegung, daß alle
Gebiete vom kleinsten bis zum größten von ihr ergriffen werden mußten.
Ein Sichausschließen einzelner Zünfte war deshalb nicht möglich, schon aus dem Grunde,
weil die Bewegung nicht die Domäne der Fachleute war, sondern sich vor der breitesten
Offentlichkeit abspielte. Das Entstehen einer großen Zahl von populären Kunstzeit-
schriften, vor allem aber die volkstümlichen Aufklärungsschriften von Paul Schulze-
Raumburg weckten eine weitgehende Anteilnahme des großen Publikums. Das Znter-
esse an der gleichzeitig einsetzenden Heimatschutzbewegung, die das Gute aus früheren
Zeiten zu erhalten suchte, wurde mit dem an der kunstgewerblichen Bewegung verquickt
und war der letzteren ein trefflicher Bundesgenosse.
Die Bedingungen für die Weiterentwicklung der Bewegung waren also die denkbar
günstigsten. Es lag daher nahe, daß geschäftskluge Unternehmer auf den Gedanken kamen,
die Konjunktur auszunutzen und an den verschiedensten Orten Werkstätten zu grün-
den, die Gebrauchsgegenstände aller Art nach Entwürfen von Künstlern und im Zu-
sammenarbeiten mit diesen herstellten und die Einrichtung ganzer Räume übernahmen.
Eine einwandfreie Arbeit war dabei ein Hauptbestreben der Unternehmen, doch zeigte
die Formdurchbildung zwar viel Geschmackvolles, war aber im ganzen ein Spiegelbild
der noch ungeklärten Auffassung ihrer Urheber. Immerhin war gegen den Anfang
ein Fortschritt der Bewegung zu konstatieren, doch hafteten ihr noch so erhebliche Schlacken
an, daß sie Gefahr lief, bevor sie zur völligen Reife kam, doch noch an diesen zu ersticken.
Die große Kunstgewerbeausstellung
in Dresden 1906 sollte endlich die
ersehnte Klärung bringen und einen Wendepunkt in der kunstgewerblichen Be-
wegung herbeiführen. Sie war mit einem bis dahin nicht gekannten Aufwand an Raum
Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906.
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