Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
72 Das Kunstgewerbe. XlI. Buch. 
und Sorgfalt angelegt und sollte einen Uberblick über alles bis dahin Erreichte geben, 
zugleich aber auch eine Heerschau aller der Kräfte darstellen, die bisher an dem Werke 
mitgearbeitet hatten. Sie hatte alle bildenden Künste, Architektur, Malerei und Plastik 
zur gemeinsamen Arbeit aufgefordert, sie hatte die große Baukunst wie den einfachen 
Grabstein, den Repräsentationsraum wie die Wohnung des Arbeiters, das kostbarste Prunk- 
mobiliar wie den bescheidensten Gebrauchsgegenstand in allen Formen und Materialien 
zur Schau gestellt. Sie war in der Tat eine glänzende Veranstaltung, und doch konnte 
man sich des Gefühls nicht erwehren, daß das, was da geboten war, schließlich nicht 
das letzte, vor allem nicht das Resultat der mit so großen Worten angekündigten neuen 
Kunst sein konnte. Es war sicher viel Znteressantes und viel Geschmackvolles dort, aber 
das meiste konnte sich über das willkürlich Launenhafte nicht erheben. Jetzt, wo man dem 
Neuen nicht mehr so überrascht gegenüberstand wie 10 Zahre vorher, jetzt wo man 
sich an seine Formen gewöhnt hatte, konnte man mit kühlerem Blut darüber urteilen 
und erkannte seine Schwächen. Man sah, daß eigentliche Fortschritte kaum vorhanden 
waren, daß es sich vielmehr bisher lediglich um das Wechseln eines Gewandes gehandelt 
hatte, ohne daß das, was sich darunter befand, verändert war. Und das Aussehen des 
Kleides war nicht einmal ein natürliches. Im Gegensatz zu der Formensprache der 
bistorischen Stile trugen die neuen Formen den sichtbaren Stempel des Ge- 
quälten und Unnatürlichen. Es waren nachweislich für sie weder die Bedingungen 
der Konstruktion noch irgendwelche sonstigen Bedingungen bestimmend. Einzig und 
allein die Laune ihrer Erfinder hatte diese Stilblüten gezeitigt und man mußte einsehen, 
daß es sich nicht um eine neue Kunst oder ein neues Handwerk, sondern allein um die 
Einführung neuer Muster handelte, die bei Gelegenheit eines Modewechsels wieder von 
der Bildfläche verschwinden konnten. Die Oisziplinlosigkeit der neuen Formen feierte 
auf der Ausstellung wahre Orgien, und es war nicht zuviel gesagt, daß man sie einen 
förmlichen Hexensabbat wildgewordener Tische und Stühle nannte. 
NRoch ein Zweites mußte aber auf dieser Ausstellung kllar werden, daß nämlich die 
bisherigen theoretischen Führer der Bewegung nicht immer auch zugleich 
befähigt waren, praktische Beispiele für ihre Lehre zu geben, die als nach- 
ahmenswerte Vorbilder dienen konnten. Was in einem Vortrag geistreich und 
glaubwürdig erschien, entbehrte in der Ausführung jeder Uberzeugung, da es ja nicht 
das Produkt eines schöpferischen Genius, sondern nur das Resultat rein theoretischen 
Nachdenkens war. Die Unfruchtbarkeit solcher Leistungen und die geringe Aussicht, das 
in ihnen Verkörperte in irgendeinem Sinne weiter zu entwickeln, mußte auch denjenigen, 
die nicht in der Bewegung standen, klarwerden. Indessen wiesen inmitten all des Un- 
reifen starke Anzeichen darauf hin, daß man den verhängnisvollen Irrtum der forma- 
listischen Zuspitzung einzusehen begann. Das Studium der Schöpfungen früherer 
Perioden, besonders englischer Beispiele, führte zu der Erkenntnis, daß deren Wirkung 
nicht auf launenhafte Eingebungen, sondern auf bestimmte Gesetze und Erfahrungen 
zurückzuführen war, die man nicht schlechtweg über den Haufen werfen durfte. Man 
mußte im Gegenteil zu der Überzeugung kommen, daß, wenn man etwas gutes Neues 
schaffen wolle, man dieses nur in strengster Anlehnung an das Alte machen könne. Was 
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