s6 Heutsche Musik. Xl. Buch.
G. Mahler. Einen Komponisten muß ich erwähnen, nicht wegen der Bedeutung,
— — die er tatsächlich hat, sondern wegen des seltsamen Umstandes, daß
ihm Bedeutung beigelegt werden konnte: Gustav Mahler. Mahler hatte eine sehr
eng begrenzte kompositorische Begabungj sie reichte hin zur Herstellung kleiner Gebilde,
etwa eines Marsches, eines Ländlers. Sein unruhiger Ehrgeiz aber trieb ihn zur Sym-
phonie, und da er den Orchestersatz und alle Raffinements der Instrumentierung voll-
kommen beherrschte, so schrieb er eine Anzahl weitschichtiger Orchesterstücke, in denen
alle Stile und Ausdrucksmittel wahllos vereinigt waren und nannte sie Symphonien.
Daß sich nun Leute gefunden haben, die diese „Symphonien“ ernsthaft als Kunstwerke
betrachtet und Mahler einen großen Komponisten genannt haben, das ist so kennzeich-
nend für die Verwirrung, die in den Kunstanschauungen unserer Zeit herrscht, daß
es hier feftgelegt werden muß.
H. Wolf. Zm Bereich des modernen Liedes ist die eigenartigste Erscheinung
Hugo Wolf. Obwohl ein begeisterter Verehrer Liszts, hat er doch ent-
scheidendere Anregungen von der Kunst Richard Wagners bekommen: das Verhältnis des
Orchesters zu den Bühnenvorgängen und den Sängern bei Wagner entspricht dem Ver-
hältnie des Klaviers zum Inhalt des Gedichts und zur Singstimme bei Wolf. Charakteristisch
für ihn und seine künstlerische Anschauung ist es, daß er seinen Liedern nicht seinen,
sondern den Namen des Oichters voransetzte: „Gedichte von Möricke“, „Gedichte von
Goethe“, „Gedichte von Eichendorff“ waren die Titel seiner ersten Liederbände und nicht
sein, sondern des Dichters Bild schmückte das Buch. Das ist auch Wagners Standpunkt:
die Dichtung ist das Primäre, das Zeugende, die Musik das Sekundäre, das Empfangende
und Gebärende. Den poetischen Gehalt der Dichtung faßt nun Wolf mit ganz merkwürdig
starker, umbildender Phantasie in Töne. Bisweilen ist er ganz einfach, fast wie Schubert
(„Fußreise"), dann wieder nach jeder Richtung kompliziert, bohrend, grüblerisch, als
wollte er dem Dichter den letzten Blutstropfen aussaugen und in seine Musik über-
flößen. Ein gewaltiger Rhoythmiker, plastisch in seiner Formgebung, dem Zartesten
ebenso zugänglich wie dem Kraftvollen, dem Humoristischen, dem Grotesken — so steht
er auf seinem beschränkten Gebiet als schöpferischer Geist von seltener Bielseitigkeit da.
Neuklassiker. Wenn Brahms in seinen Symphonien, Kammermusikwerken und
Liedern Altes und Neues, die Formenreinheit der Meister des
18. Zahrhunderts mit der reicheren Harmonik der Modernen harmonisch verschmolzen
hatte, so war hiermit für eine Zahl von Künstlern der Weg gewiesen, für solche, die
den stürmisch Vorwärtsdrängenden und Ubertreibenden nicht folgen wollten, aber auch
nicht gewillt waren, in ausgefahrenen Geleisen sich genügsam weiterzubewegen. Dieser
Gruppe von Musikern, denen unter anderen Wilhelm Berger, Friedrich Gernsheim, Hans
Huber, NRobert Kahn, Hans Koeßler, Georg Schumann, Feliz Woirsch angehören, verdanken
wir viel Schönes und Gesundes. Eine verhältnismäßig geringe Pflege hat das große
Stück für Chor, Solostimmen und Orchester gefunden. Altmeister Bruch ist nur mit
seinem „Moses“ (1894), „Gustav Adolf“ (1898) und der „Osterkantate“ (1908) ver-
1618