XI. Buch. Deutsche Musik. 87
treten, in denen er naturgemäß den Standpunkt beibehält, auf dem wir ihn in
seinen früheren Werken gesehen haben. Neben ihm ist hauptsächlich F. E. Koch als
Vertreter des modernen Oratoriums zu nennen. Zn seinen „Tageszeiten“, wo er mit
den Ereignissen eines Arbeitstages Bilder aus dem Leben Christi sinnvoll verwoben
hat, zeigt er sich als Tonsetzer von eigenem Charakter, der, oft herbe, spröde in seiner
Sprache, uns durch den männlichen Ernst seines Ausdrucks zu ergreifen weiß. Auf
geistlichem Gebiet hat sich der verstorbene H. v. Herzogenberg in seinen Kirchenora-
torien „Die Geburt Christi“ und „Die Passion“, sowie durch sein „Nequiem“ bedeut-
sam hervorgetan und hbat sich O. Taubmann durch seine „Deutsche Messe“ als Ton-
setzer von sehr bedeutendem Können und hohem Sinn erwiesen. Auch Feliz Draeseke,
dessen Christus-Trilogie durch die Größe der Anlage imponiert, ist mit Ehren zu nennen.
Sehen wir nun das heutige musikalische Schaffen im Ourchschnitt an, besonders
das Schaffen derjenigen Komponisten, die von der „öffentlichen Meinung“ als die
bedeutendsten bezeichnet werden, so können wir etwa folgendes beobachten: die Kom-
positionstechnik, die Orchesterbehandlung, die ganze Artistik haben eine schwindelnde
Höhe erreicht, was jedoch durch die Darstellungsmittel ausgedrückt wird, ist meistens
wenig bedeutend, es ist alles, was man will: witzig, geistreich, oder auch ganz verschwommen,
bloß Stimmung und Farbe, nur nicht kraftvolle, groß gedachte, groß erfundene Musik.
Es berührt den Verstand, interessiert vielleicht ungemein, aber es hat nicht die herz-
rührende Macht, die wirklich seelisch bewegende Gewalt, die das eigenste der Tonkunst
ausmacht. Auch Richard Strauß Höre ich wohl mit gespannter Aufmerksamkeit und oft
mit vielem Vergnügen, aber ich fühle dabei nicht jenes heiße Entzücken, das mir Schubert
oder Beethoven erregen. ,
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wie bei den Künstlern nur eine Meinung; alle sind sich aber auch klar darüber, daß die
Kunstmusik nur dann ihren Einfluß auf das ganze Volk ausüben kann, wenn sie von
edler Einfachheit ist, nicht mit Künstelei belastet, und wenn sie ihr Hauptgewicht nicht
auf den Ausbau einer überfeinerten Harmonik und auf das Ersinnen neuer Orchester-
effekte, sondern auf die Erfindung charakteristischer, empfundener Melodie in künstle-
rischer Fassung legt. Das Volkslied, das durch natürliche Auslese übriggebliebene Beste
aus dem Melodieschatz vieler Jahrhunderte kann wie schon öfter, so auch jetzt der Quell
werden, der unserer Kunstmusik wieder frische Säfte zuführt, aus seinem Studium kann
die Erschlaffte neue Kraft gewinnen und den Erdgeruch der Heimat.
Has Volkslied. Das hat auch der Kaiser erkannt, denn er hat mit kräftigen
Worten auf den Schatz hingewiesen, den die deutsche Nation in
ihren Volksliedern besitzt, und er hat selbst angeordnet, daß eine Sammlung der
schönsten alten und neueren Volkslieder herausgegeben werde. Unter der Leitung des
greisen Rochus von Liliencron, der ebenso bedeutend als Gelehrter und Organi-
sator war, wie verehrungswürdig als Mensch, hat eine stattliche Anzahl von Musik-
bistorikern und praktischen Musikern das Werk begonnen und vollendet und jetzt können
durch den Mund der Männerchöre die herrlichen alten Weisen in die Welt dringen.
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