88 Deutsche Musik. XI. Buch.
Mit Recht erscheint dem Kaiser überhaupt der Männergesang, der in Deutschland so
weite Verbreitung hat, als das geeignetste Organ zur Pflege volkstümlicher Ton-
kunst und besonderer Förderung wert. Die Einrichtung der Wettsingen um eine von
ihm gestiftete Kette ist dafür ein Zeichen. Man könnte von vornherein zweifelhaft
sein, ob die Übertragung des Sportbetriebes auf die Kunst ersprießlich sei, die Tat-
sache aber, daß seit der Zeit, wo das Kaiserwettsingen stattfindet, die Kultur
unserer Männerchöre wahrhaft erstaunliche Fortschritte gemacht hat, beweist, daß die
Voraussetzung richtig gewesen ist. Auch die Jugend wird jetzt mehr und mehr dem
Volkslied gewonnen. Es ist eine Freude, einem Trupp „Wandervögel“ zu begegnen
und zu hören, wie schöne Lieder sie singen und wie gewandt sie auf Zupfgeige und
Laute dazu begleiten. Ourch die Kinder kommen diese Lieder dann ins Haus —
hörte ich einige doch schon von Maurern bei der Arbeit! Wenn so von oben und von
unten das gute Werk in Angriff genommen wird, dann kann wohl einmal die niedrigste
Gattung der Musik, die jetzt gerade in besonders üppiger Blüte stehende Operetten-
melodie, die den Geschmack geradezu vergiftet, aus ihrer Herrschaft verdrängt werden.
Und auch die Kunstmusik wird wieder auf das Einfache gelenkt werden — alle große-
Kunst ist einfach 1 — das sie dann mit ihren großen Mitteln und mit dem feinstgeschliffenen
Handwerkszeug gestalten mag.
Mufsikwissenschaft. Große Fortschritte bat ferner die Musikwissenschaft ge-
macht; es ist jetzt wohl zum allgemeinen Bewußtsein ge-
kommen, daß sie ebenso wichtig ist, wie die Wissenschaft der bildenden Kunst und der
Literatur. Lange waren Friedrich Chrosander und Pbhilipp Spitta die einzigen
ernsthaften Musikwissenschaftler. Chrysander hatte fast ganz aus eigner Kraft die
Gesamtausgabe der Werke Händels hergestellt und eine Händelbiographie begonnen,
Spitta hatte eine Lebensbeschreibung Bachs vollendet und den Bau so fest gefügt,
daß seine Grundlagen noch jetzt unerschüttert stehen, und er hatte auch den größten
deutschen Meister des 17. ZJahrhunderts, Heinrich Schütz, wieder zum Leben erweckt.
Die von Chrpsander gegründeten „ZJahrbücher für musikalische Wissenschaft“ waren nur
bis zum zweiten Bande vorgeschritten, und die von ihm mit Spitta und Guido Adler
herausgegebene „VBierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“ hörte mit dem zehnten Zahr-
gange bei Spittas Tode auf zu bestehen. Zetzt stehen als die Häupter der Musikwissen-
schaft Hermann Kretzsch mar in Berlin und Hugo Riemann in Leipzig da, um die
sich viele jüngere Gelehrte gruppieren, und es ist in den letzten 25 Zahren mehr und
mit besseren Resultaten gearbeitet worden, als in der ganzen Zeit vorher seit Beginn
des 19. Zahrhunderts. Was hat man nicht alles ans Licht gebracht! Die Neumen-
schrift hat ihre Schrecken verloren, sie ist durch Vergleichung lesbar geworden, die Lieder
der Troubadours sind entziffert, das heißt richtig rhythmisiert, eine bisher ganz un-
bekannte Musikepoche, die des begleiteten Vokalstils im 14. Zahrhundert in Italien, ist durch
Johannes Wolf und Riemann aufgedeckt worden, das so dunkle 17. Zahrhundert beginnt
verständlich zu uns zu sprechen, und vieles andere ist erklärt und durchforscht. Die 1899
begründete und seit 10 Zahren unter H. Kretzschmars Vorsitz stehende „Znternationale
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