XI. Buch. Theater. 95
bedeutete keinen Fortschritt; die „Einsamen Menschen“ verrieten sehr stark die Ab-
hängigkeit von Obsen. Hauptmanns Meisterleistung waren „Die Weber“. Man darf
sie nicht als Sensation und noch weniger als Verherrlichung der Revolution auffassen,
sondern muß in ihnen eine vollendete Zeit- und Milieudarstellung voll dramatischen Lebens
und tief eindringender Charakterisierung sehen, ein Wunderwerk psychologischer Analyse
durch die Handlung selbst, eine meisterhafte Schilderung der gegenüberstehenden Parteien.
Man hat mit Unrecht behauptet, daß in diesem Stücke kein Abschluß vorhanden sei, denn
wenn es auch an Perspektiven in fortdauernden Kämpfen und weiteren Verwicklungen
nicht fehlt, so steht doch die ganze Episode der schlesischen Weberstreitigkeiten und der gleich-
zeitigen furchtbaren Hungersnot mit all ihren traurigen und ergreifenden Erscheinungen
vor dem Leser und Hörer. Die „Weber" nehmen in Hauptmanns Werk und in der ge-
samten Theaterliteratur unseres Zeitraums den ersten Platz ein.
Richt minder vorzüglich ist das naturalistische Lustspiel „College Crampton"“,
die grausame und doch mitleidsvolle Satire auf einen fähigen, aber verfallenden Künstler,
während „Der Biberpelz“, eine Diebskomödie, unter dem sichtbaren Einfluß Heinrich
v. Kleists geschrieben, trotz mancher vorzüglicher Einzelheiten, an dem Doppelfehler so
vieler moderner Stücke krankt, dem einen: gegenüber den abstoßenden Persönlichkeiten
keinerlei versöhnlichen Hinblick auf erfreuliche Menschen zu gewähren, und dem anderen:
nur eine abgerissene Situation ohne irgendwelches Ende darzubieten.
Mit viel geringerem Elücke versuchte der Dichter in „Florian Geyer" den Bauern-
krieg zu dramatisieren. Historische Unkenntnis, ein zwischen moderner und archaistischer
Redeweise ungeschickt schwankender Ausdruck, unvermeidliche Abhängigkeit von Goethes
„Götz“ sind nicht die einzigen Vorwürfe, die man diesem Ritterschauspiel machen muß.
Bielmehr zeigte sich in ihm der absolute Mangel, eine vergangene Zeit lebendig zu machen,
Szenen von unerträglicher Noheit schrecken ab, und das Stück, das schon des Titels wegen
einen Haupthelden verlangt, ist nichts weniger als eine Individualisierung des Helden, son-
dern eine verschwommene und mißlungene Gesamtporträtierung einer vielköpfigen Masse.
Den konsequenten Naturalismus verließ Hauptmann in seinen späteren Stücken.
„Hanneles Himmelfahrt“ wird man nicht mit dem späteren Reichskanzler, dem Für-
sten Hohenlohe, als „ein gräßliches Machwerk, sozialdemokratisch-realistisch, dabei von
krankhaft-sentimentaler Mvpstik, unheimlich, nervenangreifend, überhaupt scheußlich“
verwerfen dürfen, obgleich es zwischen zwei Stilen und zwei Richtungen schwankt. Denn
neben das realistische Moment tritt hier das mystisch-spmbolische: in das alte Milien,
das aus den früheren Stücken beibehalten ist, eine elende, durch Trunk, Verworfenheit
verderbte schlesische Familie, verwebt sind die Phantasien des sterbenden Kindes, das im
Traume Vergangenes neben Zukünftigem erschaut und selbst die Gestalt des Erlösers er-
blickt. Aber in dieser rührenden Hauptgestalt, dem trostreichen versöhnenden Abschluß,
braucht man keinen theatermäßigen Rückschritt zu erblicken, sondern die bewußte und
gründliche Umkehr von dem krassen Naturalismus zu poetischer Stimmung.
Eine solche findet sich in gleicher Weise in der „Versunkenen Glocke“ (1890).
Statt des visionären Traumes des Kindes das träumerische Dahinleben eines bekannten
Künstlers, der, aus dem platten Alltagsleben hinaus, in die Märchenwelt sich rettet.
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