96 Cheater. XI. Buch.
Aber es gehört doch Mangel an Poesie dazu, in der realistisch angreifbaren Gestalt des
Kautendelein (Waldschrat und Nickelmann mag man als groteske Schöpfungen preis-
geben) nur müßige Erfindungen zu sehen. Und wenn dieses märchenhafte Wesen sich
enger ans Herz legt und dem Gemüte angenehmer schmeichelt als die wirklich realen Figu-
ren — in diesem deutschen Märchendrama steckt mehr Poesie, als in hundert regelrechteren
und die wirkliche Welt gesetzmäßiger darstellenden Werken.
Keine der späteren Dichtungen läßt sich mit diesen früheren vergleichen. Manche be-
weisen den störrischen Eigensinn des in seltsame Theorien Verrannten, oder die auch
dem Genius nicht erlaubte Manier, dem Genießenden Unverständliches oder Abstruses zu-
zumuten; manche andere, „Fuhrmann Henschel“ (1898), „Rose Bernd“ (1903),
die wiederum in schlesischem Boden wurzeln, bieten nur neue Ruancen, aber keine neue
Art. Abber die meisten legen Zeugnis ab von einem außerordentlichen Können; sie be-
kunden eine Wucht der Sprache, eine Kunst der Beherrschung der Massen, eindringlichste
Charakteristik und geben Zeugnis von so unendlich reichen Gaben, wie sie kein anderer
Lebender aufweist.
Seit kurzem sucht sich Hauptmann als Regisseur des neuerstandenen „Deutschen
Künstlertheaters“ zu bewähren; teilweise mit großem GElück, wenn auch mit einer Moderni-
tät, die des allgemeinen Beifalls nicht würdig ist und mit einer gewiß tadelnswerten Will-
kür den Größten, wie Schiller, gegenüber.
Sein letztes Werk „Festspiel in deutschen Reimen“, das in der Lesewelt unge-
heuer verbreitet ist (es liegt schon die 16. Auflage vor), hat viel Staub aufgewirbelt. Gewiß
ist es kein patriotisches Festspiel, überhaupt kein Drama, vielmehr eine Art Puppenspiel
in bunten Szenen und Einzelreden. Zudem so voll von Satire und Anspielungen, daß
es nur geschichtlich Hochgebildeten verständlich ist. Es ist bedauerlich, daß einem solchen
Werke gegenüber kleinliches Gezänk der Parteien laut geworden ist, und daß seine Ge-
schicke von einem anderen als ästhetischen Standpunkt aus vollzogen wurden. Man könnte
mit dem Dichter rechten, daß er Schillers prophetische Stimme nicht ertönen ließ und
daß er Goethe gar nicht erwähnte, den man nun glücklicherweise aufhört, unpatriotischer
Gesinnungen zu bezichtigen. Wenn man aber wiederum mehr von politischem als von
ästhetischem Standpunkte aus gesagt hat, das Spiel sei eine Verhöhnung Deutschlands
und eine Verherrlichung Frankreichs, so ist das eine grobe Verkennung; denn Napoleon
erscheint in ihm in einer sehr fragwürdigen Größe, Friedrich der Große dagegen als Vor-
bereiter für eine große Zukunft. Und auch die Art, wie Stein, Gneisenau, Jahn, Kleist,
vor allem Fichte, charakterisiert werden, wie die Weltbürger, die Engländer, die klein-
mütigen und großmäuligen Philister sich geben, wie die großen Gedanken: die Reforma-
tion, die Freiheitsbewegung, die Fridericianische Tradition verteidigt und als Bürgschaft
für eine neue große Zukunft hingestellt werden, ist eines wahrhaften Dichters würdig.
Neben schlimmen prosaischen Stellen und entsetzlichen Reimen wunderbar poetische Par-
tien. Gegenüber undramatischen Ungeheuerlichkeiten dramatische Einlagen von außer-
ordentlicher Kraft, z. B. die Szene der Mütter, die ihre Söhne reklamieren. Gewiß
wäre es besser gewesen, an das Ende statt des Einschließens Blüchers in die Totenkiste
die schönen Worte der Athene-Deutschland zu setzen:
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