XI. Buch. Cheater. 104
Führt Schönherr nach ÖOsterreich, so geleitet Foseph Ruederer nach
Bayern. Die Norgenröte, eine Komödie aus dem Jahre 1848
(Berlin 1905), ist ein toller Spaß, den sich der Dichter mit den Zeitereignissen erlaubt.
Man weiß nicht, was derber verspottet werden soll: die großsprecherischen Studenten,
die hochnäsigen Philister, die salbungsvollen Geistlichen oder die devoten Hofschranzen.
Sympathisch werden im Grunde nur zwei Frauen behandelt: eine resolute Bierwirtin,
die Geld verdienen und ihre Tochter verheiraten will; ferner Lola Montez, die, ohne
irgendwie idealisiert zu werden — sie bleibt vielmehr die skrupellose Hetäre — durch ihren
Mut, ihr Selbstbewußtsein und die sieghafte Macht ihrer Schönheit, die sie selbst gegen
ihre ingrimmigsten Feinde bewährt und trot ihres schließlichen Unterganges als Siegerin
erscheint.
RKecht bedeutsam wird aber dies Anklammern an den Boden und, was damit in
Zusammenhang steht, die Feindschaft des an die Schollen Festgewurzelten gegen die,
die sich leichtsinnig von der Erde trennten, in folgendem Drama gezeigt:
Mutter Landstraße, das Ende einer Zugend, Schauspiel in 3 Aufzügen von
Wilhelm Schmidt-Bonn, Berlin 1904. Eine grausame, aber höchst lebendige und
wahre Charakteristik eines Landmannes und seines Sohnes, der vor 10 Zahren aus dem
Vaterhaus entwichen, nun mit Frau und Kind ein Aspl bei seinem Vater sucht, aber
unbarmherzig von ihm fortgewiesen wird, nachdem er dem Vater den größten Schmerz
bereitet hat, selbst zum Diebe geworden ist. Diese Gegenüberstellung zweier rauher
Charaktere ist meisterhaft, ebenso die Charaktere der Frauen, einer Cousine Sophie,
die, wenn sie auch von Hans, dem Sohne, verlassen worden, ihm die Treue wahrt und
der Frau des letzteren, die trotz ihrer Krankheit und Schwäche an dem Geliebten hängt.
Dieser Charakterzeichnung ist die Poesie der Landstraße, die durch einen Spielmann
repräsentiert wird, etwas künstlich angeflickt.
Bapyern.
Mit dieser Behandlung der Erde steht im Zusammenhang das Reden
von Bauern. Anzengrubers unvergleichliche Bauernstücke, haupt-
sächlich aus den 60er und 70er Jahren, in denen menschliches Elend und Glück im An-
schluß an die großen politischen und religiösen Fragen so wunderbar, bei aller mitunter
vorkommenden Oerbheit echt künstlerisch dargetan werden, haben nicht unmittelbare
Schule gemacht. Daß aber das moderne Drama bei seiner Bevorzugung der niederen
Stände gerade auf die Bauern exemplifizierte, ist selbstverständlich. Auch hier ist wieder
Hauptmann zu nennen, dessen Helden in vielen, wenn auch keineswegs in allen Stücken
Bauern sind. Aber auch sonst kommen sie vielfach vor. Ein Beispiel möge genügen.
Ein rechtes Bauerndrama mit Bauernroheit und Aberglauben ist E. von Keyser-
lings „Ein Frühlingsopfer“ (Berlin 1900). Die Hingabe eines unehelichen, von
seinem Stiefvater mißhandelten Kindes Orti für seine Mutter. Das Bild dieses halb-
wüchsigen Mädchens, das die Liebe eines kräftigen Burschen gewonnen zu haben meint,
ist rührend, die Art, wie dieser das Mädchen, nachdem er es genossen, verstößt, grausam;
unbefriedigend das Milien, zerstörend, fast wie eine Satire auf den frommen Glauben,
der doch verklärt werden soll, wirkt nur der Umstand, daß Orti, durch die Liebe des Bur-
Bauern.
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