106 Theater. XI. Buch.
schen verführt, die Selbstaufopferung für die kranke Mutter aufschiebt oder geradezu
bereut und sich ihres Gelübdes erst wieder inne wird, nachdem sie erkannt hat, daß der
Bursche nur aus Zeitvertreib mit ihr gespielt hat.
Historische Stücke. Schnitzlers „Schleier der Beatrice“ war ein historisches
Stück. Das naturalistische Drama schien nicht bloß mit den
Jambentragödien, sondern mit geschichtlichen Stücken überhaupt aufgeräumt zu haben.
Mit dem Parteirufe: Gegenständlichkeit, Beobachtung des wirklichen Lebens, Berück-
sichtigung der Aufgaben und Ziele der Gegenwart wollte sich die Versenkung in eine ferne,
entlegene Zeit nicht vertragen. Als aber Hauptmann mit diesem Dogma durch seinen
„Florian Geyer“ brach, verstummte der Parteiruf, und insbesondere ward von Wilden-
bruch (vgl. oben) eine verschwundene Epoche auch auf der Bühne neu belebt. Die anderen
folgten. Und zwar wurde zunächst die Antike aus dem Staube, in den sie verhüllt schien,
gezogen. In doppelter Weise. Antike Stücke, selbst Lustspiele, wurden in alter Weise
in Masken vorgeführt; andererseits (das Theater der Fünftausend) wurden die großen
Tragödien des Sophokles in Räumen, die sonst der Pferdekunst und dressur galten,
dem Publikum vermittelt. Trotz des unheiligen Ortes übten einzelne Trauerspiele
des Sophokles unter Reinhardts feinfühliger Leitung einen großen Eindruck aus.
Antike. Man begnügte sich indeß nicht mit der Wiederbelebung der Antike, sondern
suchte auch antike Stoffe neu zu bearbeiten. Auch hierbei kann man,
so unwillig die Modernen solches Herbeiziehen auch von sich abwehren, das Beispiel
der französischen Dichter: Corneille, Racine, Boltaire und ihrer Nachläufer in Deutsch-
land anführen. Die antiken Helden der Franzosen nämllich sind trotz peinlicher Wahrung
der alten Sage moderne Menschen oder Alte mit modernem Einschlag. Sie deklamieren
und empfinden wie Menschen des 17. Zahrhunderts. So kann man auch von vielen
Versuchen deutscher Dichter, sich in antike Stoffe zu versetzen, sagen, daß hier modernes
Empfinden stark, ja ungebührlich hervortritt.
Daher sind manche Versuche, sich mit dem Altertum auseinanderzusetzen, nicht sehr
erfreulich.
k v. Hoffmannsthal. Hugo v. Hoffmannsthal, für dessen Lyprik ich kaum
* b ein Organ besitze, weil mir seine Willkür in Worten
und Metren unverständlich erscheint, hat vieles Lyrische auf das Orama übertragen.
Seine kleineren Dramen sind im Grunde nur lprisch: Stimmungsbilder und Situationen.
Er weiß zu rühren, aufzuregen, nicht zu erschüttern. Es ist nur ein Wühlen in Grausam-
keiten, wenn er in „Die Frau im Fenster“ die ungetreue, den Liebhaber erwartende
Dialora von dem rachsüchtigen riesenstarken Mann ertappen, alle Phasen der Todes-
furcht durch ihr Geplapper durchschimmern läßt, bis dann endlich die Ermordung der
jungen schönen Sünderin erfolgt. In seinem gewagten Spiel „Der Tod und der Tor“
hat er die Kühnheit, außer dem Tode selbst drei Gestorbene auftreten zu lassen. Hier kann
man sehen, wie weit ein Nachahmer hbinter dem Schöpfer zurückbleibt. (Auch Haupt-
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