Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XI. Buch. Cheater. 107 
  
mann hat in „Hanneles Himmelfahrt“ den Tod auftreten lassen, aber er bleibt fast durch- 
aus stumm. Auch er läßt Verstorbene erscheinen, aber in einem Traumbild; dadurch 
erzielt er erschütternde Wirkungen, während Hofmannsthal durch diese künstliche Be- 
lebung der Toten nur wenig schauerlich wirkt, im Grunde den Zuschauer kalt läßt. Bei 
Hauptmann gestaltet sich die Szene trotz des Traumes zu einem erschütternden Drama, 
bei Hofmannsthal kommt es im Grunde nicht über eine lpyrische Szene, über eine Art 
Monodrama, hinaus). Der Tor, der nicht an den Tod glaubt, der nichts erlebt, nichts 
begangen zu haben meint und der nun nach der Erscheinung seiner Mutter, seiner Ge- 
liebten, seines Freundes, denen allen er Kummer bereitet und Herzeleid angetan hat, 
als ein für das Ende Reifgewordener erklärt wird. Ubrigens liegt in diesem Stück viel- 
leicht schon der Keim zu dem Spiele „Jedermann"“, das vor einigen Zahren durch 
Reinhardt, mit allen erdenklichen Regiekünsten ausgestattet, im Zirkus aufgeführt wurde. 
Aber dieses sog. moderne Stück, eine Nachdichtung eines alten, besonders in der Reforma- 
tionszeit beliebten Stoffes ist nichts weniger als eine dichterische Großtat, sondern ein 
verschwommenes katholisierendes Epos, das nur den Gemeinplatz illustriert, daß beim 
Nahen des Todes alle sog. guten Freunde den durch die Hippe Bedrohten verlassen, 
auch die gerechten Taten, daß selbst die Liebe ihre Kraft verliert und daß höchstens die 
Muttertreue aushält. Selbst der in einigen früheren Stücken für manches Ohr, nicht für 
das meinige, verführerische Klang Hofmannsthalscher Berse ist hier einer öden, altertüm- 
liche Sprechweise nachahmenden, nicht wirklich sprachbildenden Reimerei gewichen. 
Von Hofmannsthals Nachbildungen und Nachahmungen der Antike sind besonders 
zwei hervorzuheben: König Odipus und Elektra. 
Der König ÖOdipus ist etwas ganz anderes, als der Titel zu verheißen scheint. 
Denn wir lernen nicht Odipus in seiner Macht kennen, sondern im Aufsteigen zu dieser 
Macht, nicht in seinem Walten als König, sondern nur bis zu dem Moment, in welchem 
er den Thron seines Baters besteigen soll, seines Vaters, von dem er gar nicht weiß, 
daß es sein Vater ist. Schöne grandiose Szenen finden sich in dem Stück: die Ermordung 
des Vaters, der Tod des Knaben des Kreon; erhabene, in ihrer Größe und Düsterheit 
ergreifende Charaktere wie Antiope, die Mutter der Jokaste. Aber das Ganze ist, um 
nicht zu sagen verfehlt, jedenfalls absolut unantik, hppermodern, den antiken Vorstel- 
lungen entgegengesetzt. Wohl begreifen wir bei der Gewalt der Orakel und dem Vor- 
berrschen der Schicksalsidee, wie Odipus der allgemeinen Meinung folgt, daß er, der 
die Sphinz besiegt hat, die Königin heiraten und Herrscher werden soll. Aber wir ver- 
mögen einen mit modernem Empfinden ausgestatteten Menschen nicht zu begreifen, wie er, 
dessen Seele belastet ist mit dem grauen Spruch, er werde seinen Vater töten und seine 
Mutter heiraten, fast unmittelbar, nachdem er wiederholt sein Sehnen ausgedrückt hat, 
unerkannt zu bleiben und zu sterben, sich in gefährliche Abenteuer einläßt und, von der 
Schönheit der Königin ergriffen, in einen Liebesparozismus gerät. Wir verstehen es 
wohl, daß eine Königin des Altertums stumm und gelassen dem Volkswillen sich fügt 
und den um mehr als 20 Jahre jüngeren Mann, einen kaum ausgereiften Züngling, 
zum Gatten nimmt. Aber wir begreifen nicht, wie eine Frau modernen Empfindens, 
nachdem nicht etwa ein Trauerjahr vergangen ist, sondern noch die ersten Trauerwochen 
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