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XI. Buch. Theater. 109
Hier wird mit freier Ausgestaltung des Goetheschen Fragments Odpsseus an den Hof
des Phäakenkönigs geführt, erwirbt sich durch seine Erscheinung und nachdem sein Name
bekannt geworden, die begeisterte Freundschaft des Königs Alcinoos, die zum Teil.
widerwillige Bewunderung der Höflinge und die leidenschaftliche Liebe der Nausikaa,
Das Neue in dieser ODichtung ist, daß Odpsseus die Liebe des Mädchens erwidert und in
die Heiratspläne willigt, sei es aus Sinnlichkeit, sei es aus Bewunderung der Zugend
und Schönheit des Mädchens, sei es aus List, um als Mitregent die Möglichkeit der Heim-
kehr zu erlangen. Durch Nausikaa aber, die ihm von Gattin und Sohn spricht, von deren
Gefährdung sie gehört hat, und von ihr unterstützt, besteigt er ein Schiff, das ihn zu den
Seinen führen soll. Bleibt nun auch, um mit Goethe zu reden, dem guten Kinde nichts
übrig, als den Tod zu wählen, so wird doch das Ganze eine wahrhaft menschliche Tragödie
in schönstem Ebenma, in der höchstens der willkürliche Wechsel von fünffüßigen Jamben
und Hezsametern stört, in der aber einzelne Charaktere, der des Mädchens, der Mutter,
des Bruders, des Odpsseus, des blinden Sängers in wundervoller Weise gezeichnet sind.
Mittelalter. Licht bloß in das griechisch-römische Altertum, sondern auch in die
biblische Zeit suchte man sich zu versenken. Aber diese Bearbei-
tungen des Saul- oder Susannastoffes und ähnlichen haben fast ebenso geringe Bedeu-
tung wie die dramatischen Verklärungen Christi, unter denen außer dem schon erwähnten
„Johannes“ von Sudermann böchstens ZJ. B. Widmanns gedanken- und formschöne
Dichtung „DHer Heilige und die Tiere“ eine Erwähnung verdient.
Interessanter als die Bearbeitungen des Altertums sind die des Mittelalters.
Hierbei bemerkt man aber, so sehr auch die Beschäftigung mit historischen Stoffen an das
Zeitalter der Romantik gemahnt, keine romantischen Gedanken. Denn es handelt sich
nicht, wie es in jener Epoche Sitte war, um eine Verklärung der abgestorbenen Zeit,
auch nicht um eine Zdealisierung des Katholizismus, sondern häufig wenigstens um eine
dichterische Wiederbelebung einer längst verflossenen Epoche.
Ernst Hardt bildet die altgermanischen Sagen in neuartiger Weise um. Seine
„Gudrun“ (Leipzig, Insel-Verlag) ist eine gewaltige Dichtung. Das Bedeutsame in
ihr ist außer der prächtigen Darstellung kraftvoller Menschen das Moderne der Heldin,
wie sie nicht bloß Königin im Lumpenkleide bleibt, sondern wie sie, körperlich durch den
O-lchstich der Gerlinde, der Mutter des Normannenkönigs Hartmut, getroffen, seelisch
zugrunde geht an dem Zwiespalt zwischen der Treue zu dem ihr verlobten Dänenherrscher
Herwig und der Bewunderung, der aufkeimenden Leidenschaft zu Hartmut, der sie
geraubt und zu entehren versucht hatte. Die Gestalten des alten Wate, des Königs
Hettel, der Gerlinde und der Frauen Gudruns sind mit wunderbarer Kraft geschildert:
grauser Humor steht neben wilder Leidenschaft, Treue, die bis zum Tode verharrt, neben
der Liebe, die alle Schrecknisse überwindet. In der Zeichnung der Frauen bekundet
Hardt wahre Meisterschaft: Gerlinde in ihrem Mutterstolz, Gudrun in ihrer Mischung
von Heroine und Bachantin, Sindgurd in ihrer Perversität, Ortrun, die Tochter Gerlindes,
in ihrer Lieblichkeit und Unschuld sind Charaktere, die unguslöschlich im Gedächtnis haften.
Und ebenso ist „Tantris (umgekehrt für „Tristan") der Narr“ ein Stück echtester
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