116 Cheater. XI. Buch.
der gewaltige Eindruck der Lehre Christi, der zwar selbst nicht auftritt, aber dessen Wirkung
man überall verspürt, und die Gestalt des Zudas, der zwar als Bote Christi erscheint,
aber sich schon hier als Verräter ankündigt, sind ungemein ausdrucksvoll ausgeprägt.
Nur weniges Neueste, freilich keineswegs Erfreuliche, mag zum Schluß zusammen-
gestellt werden.
Grotesken. Zu welchen Grotesken moderne Dichter ihre Zuflucht nehmen,
lehrt Carl Sternheim: „ODie Hose“ (Berlin 1911). Eine ganz lustige
Idee, daß die hübsche Frau Luise Moske eine Hose auf der Straße verliert, wird zu
manchen komischen Effekten benutzt: ein Barbier und ein Franzose, beide lüsterne Be-
obachter dieses Vorganges, melden sich als Mieter, kommen aber nicht recht auf ihre
Kosten. Herr Moske ist das gutgezeichnete Urbild eines beschränkten Philisters, Fräulein
Deuter das einer alten begehrlichen Zungfer, aber der eine Mieter ist ein unerträglicher,
geradezu unmöglicher Schwätzer, dessen Schmeißen mit Geld — er erlegt den jährlichen
Mietzins, nach dem Wohnen von wenigen Tagen — ebenso unbegreiflich ist, wie seine
plötzliche Begeisterung für eine sich romantisch gebärdende Gefallene, die er, von einem
Bombenrausch benebelt, antrifft. Sternheim hat den Ungeschmack nach Molières Vor-
bild, eines seiner früheren Werke zu zitieren; er möge bedenken, daß man durch Nach-
ahmung der Mätzschen eines Meisters kein Molière wird. Zn dem Lusftspiel „Die
Kassette“ desselben Schriftstellers glaubt man sich trotz der glänzenden ZIdee — eine
Erbtante vermacht ihr Vermögen der Kirche, während die Verwandten sich als die
gewissen Besitzer wähnen — in einer Gesellschaft von Verrückten zu befinden: so ou-
triert sprechen, so seltsam handeln alle vorkommenden Personen.
Das Grotesk-Satirische in Verbindung mit dem Tragischen, gesundes Liebesgefühl,
vereint mit krankhaft erotischem, ist in ganz eigener Art in Herbert Eulenbergs,
eines ungewöhnlich fein nachempfindenden und Vergangenes poetisch nachgestaltenden
Essapisten, „Belinde“, ein Liebesstück in 5 Aufzügen (Leipzig 1913) gemischt. Belinde,
mit Eugen verheiratet, hat sich nach jahrelanger Abwesenheit des Gatten mit dem jungen
Roger verlobt. Beide lieben sich glühend, da kommt Eugen zurück, reklamiert seine
Rechte, verabredet mit seinem Nebenbuhler ein amerikanisches Duell, in dem dieser den
Tod suchen muß, kann aber seine Gattin, die zwar ehemalige Liebe für den Gatten
wiedererwachen fühlt oder zu fühlen vorgibt, nicht wieder erlangen, da diese sich tötet;
als Ausblick wird auch Eugens Tod gezeigt, der Belinde noch immer mit wahnsinniger
Leidenschaft liebt. Dieser tragische, halb wirkliche, halb romantische Stoff wird durch
die Figur des Bruders Hyazint, „eines Menschen von letztem Adel“, eines hyfterisch
veranlagten Morphinisten, eines tollen Verschwenders und übergeschnappten ätherischen
Liebhabers erheitert, der wähnt, ein geistiges Liebesverhältnis mit einer Malerin zu
unterhalten, die er nie gesehen hat, in Wirklichkeit mit einem verwachsenen jüdischen
Halsabschneider verkehrt, der den tollen Menschen ausbeutet. Diese seltsame Mischung
der Arten: eines wahrhaft poetischen Liebesspiels und eines tollen, kaum glaublich
gemachten Spuks verdirbt die Wirkung des bedeutsamen Werkes, wenn es sie auch nicht
ganz aufzuheben vermag.
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