XI. Buch. Cheater. 117
Frank Wedekind. Der Dramatiker, der vielleicht jetzt am meisten von sich reden
macht, ist Frank Wedekind. Uber seine schauspielerischen
Ambitionen kann man füglich schweigen, da diese Ubersicht die eigentliche Schauspiel-
kunst nur zu streifen hat. Aber von seinen Theaterstücken muß die Rede sein. Gewiß
besitzt er außerordentlich viel Geist, Humor, Fronie und einen ausgeprägten Sinn für
starke Bühnenwirkungen; aber was er damit schafft, wird häufig verdorben durch krasse
Willkür, gewollte Absonderlichkeit und ein schleuderhaftes Hinwerfen von Einfällen.
Er darf wahrlich nicht als Motto für seine Leistungen das Wort wählen, das er einmal
einen Künstler — zufällig im Ernst — sprechen läßt: „Man kann nicht mehr tun, als es
mit der Kunst so gewissenhaft wie möglich nehmen.“
„Der Kammersänger“, den der Verfasser selbst einmal, nicht ganz mit Recht,
als kraft- und saftlose Posse bezeichnet, ist eine Folge von Szenen, in denen die Gewalt,
die ein Künstler durch seine Leidenschaftlichkeit und Intelligenz auf Männer und Frauen
ausübt, charakteristisch, wenn auch ziemlich roh, dargestellt wird. Das schon mehrfach
erwähnte Stück „Frühlings Erwachen“ ist eine aufregende, scharf beobachtete, frei-
lich mit zahllosen Willkürlichkeiten und Roheiten verbrämte, durch mannigfache Wider-
lichkeiten abschreckende Zeichnung des Erwachens des erotischen Triebes.
Was aber seine Hauptstücke betrifft, so muß der Kritiker ehrlich bekennen — selbst
wenn er von dem Autor als „der normale Leser“, d. h. als ein erbärmlicher, die Größe
der neuen Richtung nicht begreifender Philister verdammt wird —, daß er diese Stücke
einfach nicht begreift und kaum verstehen kann, daß ein Dichter von Sinn und Geschmack
neun Jahre, von 1892—1901, daran zugebracht hat. Es sind die Tragödien „Erdgeist“
und „Die Büchse der Pandora“. Gewiß kann es auch ein poetischer Vorwurf sein, die
Geschichte einer Dirne zu schreiben, ohne daß sie schließlich mit dem Mantel der Feilig-
keit bedeckt wird oder durch Bußfertigkeit sich aus dem Pfuhl der Gemeinheit zu befreien
sucht. Verbrechertragödien, selbst wenn die AUbeltäter in ihrer Verstocktheit verharren
und in ihrer Sünden Maienblüte dahingerafft werden, können den gewaltigsten Ein-
druck auf Leser und Zuschauer machen, auf Menschen von Gefühl und Empfindung,
auf Leute von Sinn und Geschmack. Wenn der Autor gegen diese polemisiert und eine
seiner Personen, unter denen er sich selbst zu begreifen scheint, sagen läßt: „Um wieder
auf die Fährte einer großen gewaltigen Kunst zu gelangen, müßten wir uns möglichst
viel unter Menschen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben, denen die
einfachsten animalischen IZnstinkte bei ihren Handlungen maßgebend sind“, so ist dies
vielleicht eine Rechtfertigung seines Planes, aber eine ebenso geschmacklose wie unzu-
treffende. Diese Geschichte einer Buhlerin, die, als Kind schon mit allen Makeln behaftet,
vermöge ihrer Schönheit und Grazie bei den Männern solches Entzücken hervorruft,
daß sie hintereinander drei Ehen schließt: mit einem alten Medizinalrat, der, da er sie
auf Untreue ertappt, vom Schlage getroffen wird, mit einem Maler, der, da er ihr
Gebahren nicht mehr mit ansehen kann, sich erschießt, und mit einem Schriftsteller, der
sie lanciert hat, und den sie schließlich selbst niederknallt; wie sie dann, nachdem sie aus
dem Gefängnis entflohen, in anrüchigster Gesellschaft lebt, zuerst mit einem Artisten zu-
sammenhaust, dann mit einem Theaterdirektor, dem Sohn des von der Buhlerin ermor-
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