Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
118 Cheater. XI. Buch. 
  
deten Schriftstellers, die endlich im schrecklichsten Elend sich allerlei Gesindel von der Straße 
aus in ihre Spelunke holt (auch das wird im einzelnen beschrieben), bis sie schließlich 
von einem dieser Rohlinge ermordet wird, — diese widerwärtige, verbuhlte, gefühllose 
Dirne löst in der Seele des Lesers und gewiß auch des Beschauers kein Grauen aus, 
kein tragisches Entsetzen, sondern nur Widerwillen und Ekel. Widerwärtige, nicht bloß 
jeder Moral, sondern jedem künstlerischen Geschmack hohnsprechenden Szenen sind wirr 
aneinandergehäuft: geile Männer und Frauen, perverse Dirnen, Abenteurer und Mäd- 
chenhändler kommen auf die Szene; die Sprache einzelner Personen, namentlich die 
des Artisten und die des Alten, der als Vater der Heldin das Buch durchzieht, aber dies 
schwerlich ist, wenn er nicht etwa mit seiner Tochter in unnatürlichem Verhällnisse steht, 
ist so gassenmäßig und bordellartig, daß man nicht bloß etwa im Namen der Moral 
und des Anstandes, sondern im Namen echter dramatischer Kunst gegen solche angeblich 
theatralischen Produkte entschiedene Berwahrung einlegen muß. 
Den Gipfel ersteigt er jedenfalls in dem sog. Mosterium „Franziska“ (München 1913). 
Was dieser tolle Spuk mit Satiren auf das Versicherungswesen, auf Politik, Literatur, 
Frauenemanzipation und Herrenmoral bedeuten soll, verstehe ich absolut nicht. Perversi- 
täten aller Art, Geistererscheinungen usw. machen das Stück weder verständlicher noch 
anmutiger. Es bleibt unbegreiflich, daß sich ein Theater zur #lufführung eines solch 
völlig undramatischen und kraftlosen Machwerks herbeiläßt, in dem zwar viel Geist neben 
grenzenloser Willkür waltet, von einer Handlung aber eigentlich gar nicht gesprochen 
wird, sondern nur zusammenhanglose Bilder mit fratzenhaften Gestalten an dem Leser 
und dem Zuschauer vorbeirauschen. 
Schluß. Es ist ein literaturgeschichtlicher Zrrtum, zu wähnen, jede neue Richtung 
müsse etwas bedeuten, jedes dramatische Produkt sei ernst zu nehmen. 
Wie Ludwig Thoma, der gewiß kein Zurückgebliebener ist, auf die Frage: „Welchen 
Eindruck machen auf Sie die Schöpfungen der neusten Kunstrichtung?" ganz neuerdings 
die Antwort erteilte: „Keinen“. Und auf die weitere Frage: „Glauben Sie, daß in 
diesen Richtungen die Zukunft der deutschen Kunst liegt?“ llipp und klar erwidert: 
„Nein"“, so darf auch der literarische Kritiker sich gegen die Symbolisten, ihr Gefolge 
und ihre Verwandten gegen die „Aeuesten, die sich erdreisten“, einfach ablehnend ver- 
halten; er darf gestehen, daß diese Schöpfungen auf ihn keinen Eindruck machen, und 
daß er in ihnen keine Zukunft der deutschen Schauspielkunst sehen kann. Bielleicht gibt 
die Zukunft dem Kritiker unrecht und den Strebenden recht, dann schade um die Zu- 
kunft! 
  
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