Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
6 ODas öffentliche Leben. XII. Buch. 
  
vor hundert Zahren, wo uns die Aufklärung duldsam gemacht und ihre dogmatische 
Indifferenz uns einander näher gebracht hatte. Heute sind wir nicht nur konfessionell weiter 
auseinander als damals, auch innerhalb der Konfessionen sind, namentlich auf protestan- 
tischer Seite — doch nicht auf ihr allein — die Gegensätze schroffer und bewegen sich auch 
bier von einer äußersten Rechten durch alle möglichen Parteien und Parteischattierungen 
bindurch bis hinüber zu einer nicht minder extremen Linken. Und auch unsere sittlichen 
Anschauungen gehen vielfach weit genug auseinander. Diese religiöse Zerklüftung be- 
lag#t man meist, als wäre sie nur ein Unglück, und ein Unglück ist sie gewiß auch; aber 
übersehen darf man doch nicht, in welchem Maße sie, ähnlich wie der Partikularismus, 
die Geister wach gehalten und im nie ruhenden Kampf geschärft hat. Auf deutschem 
Boden gibt es deswegen auch für die Kirchen und für die religiösen Menschen kein Er- 
starren und Verkalken, der Gegensatz hält une alle in Atem und lebendig. 
Und auch hier ist die Folge, daß wir mehr Suchende 
sind als solche, die ein Fertiges an Welt- und Lebens- 
anschauung schon gefunden hätten und haben. So 
fehlt unserer Sitte freilich der sichere religiöse Hintergrund, den sie bei den Griechen 
hatte — man denke an das Agonale, an die Olpmpischen Spiele und ähnliche im Namen 
der Götter bestehenden und durch sie geweihten Einrichtungen und vergleiche sie mit 
unseren Wettrennen und unserem ganzen nur utilitaristisch zu begründenden Sport- 
treiben. Aber wenn mich nicht alles täuscht, so ist bei uns wenigstens das Sehnen 
nach einer einheitlichen Weltanschauung allgemein, und das gibt unserer Zeit wiederum 
den zwar unruhigen, aber doch gemeinsamen und einheitlichen Grundzug, wie er neben 
Religion und Weltanschauung auch in unserer Poesie und Literatur zutage tritt. So 
kann man auch da paradozx sagen, in unserem Kampfe und in unserer Zerrissenheit 
selbst liege das Gemeinsame und uns alle Einigende, in dem scheinbaren Mangel die 
Kraft unseres modernen Lebens, die Lebenskraft der Ruhe- und Rastlosigkeit, des ewigen 
Unbefriedigtseins und des Vorwärts- und Aufwärtsdrängens, das unserem deutschen 
Volk heute so entschieden das Aussehen einer nicht stagnierenden und auf alten Lor- 
beeren ausruhenden, sondern einer im Fortschreiten begriffenen, voranstrebenden und 
vorankommenden Nation gibt. Das ist die Signatur Deutschlands unter Kaiser Wilhelm II. 
Suchen nach einheitlicher 
Weltanschauung. 
  
  
Neben dieser Eigenschaft des Suchens, 
die unserem ganzen öffentlichen Leben 
von der Politik mit ihrem expansiven Imperialismus und dem Wirtschaftsleben mit seinem 
immer neue Absatzgebiete suchenden Welt- und Wettbewerb, bis zu der nach einem 
neuen Stil und nach Stil überhaupt Ausschau haltenden Kunst oder dem um eine Zukunfts- 
religion sich mühenden Monistenbund und internationalen Religionskongreß ihren Stempel 
aufdrückt, fällt uns eine andere Seite als unserem ganzen Leben gemeinsam in 
die Augen, die demokratische. Wenn Zhering recht hatte mit dem paradoxen Wort, 
daß die Mode die Hetzjagd der Standeseitelkeit sei, so zeigt sich in ihr am äußerlichsten, 
aber auch am sichtbarsten der stetige Kampf des demokratischen mit dem aristokratischen 
Demokratisierung des ganzen Lebene. 
  
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