XII. Buch. Oas öffentliche Leben. 7
Element und der stetige Sieg des ersteren über das zweite. So wie sich die oberen
Zehntausend heute kleiden, kleiden sich morgen, um es ihnen gleichzutun, die Millionen
aller anderen. Aber weil die Mode der oberen Zehntausend diesem demokratischen Zug
nicht folgen, diesem Kleidernivellement sich nicht fügen will, so ist schon übermorgen
die Mode von heute außer Mode, die Mode der Oberen schon wieder eine andere, und
darum die Hetzjagd, der ewige Wechsel und vor allem auch das wunderliche Umschlagen
von einem Extrem zum andern, von Michelangelo zum Barock, vom Barock zum Rokoko,
vom Rokoko zum Empire, vom Empire zum Biedermeierstil, von der glockenförmigen
Krinoline zu dem kläglich und häßlich den Schritt verschränkenden Humpelrock.
Und nun gleich zum anderen ernsthafteren Ende, zum allgemeinen und gleichen,
direkten und geheimen Wahlrecht! Es ist durch und durch demokratisch, denn es
macht die Stimme des ärmsten Arbeiters und des hinterwäldlichsten Bauern gleichwertig
mit der des ersten Ministers ober des weltberühmten Erfinders oder des gefeiertsten
Künstlers; Bildung und Unbildung, Besitz und Besitzlosigkeit, Dummheit und Verstand —
an der Wahlurne macht das keinen Unterschied, hier werden die Stimmen gezählt und
nicht gewogen. So wirkt es zunächst nur erschrecklich nivellierend und uniformierend
und kommt dadurch, in eigenartiger Wechselbeziehung, auf dasselbe hinaus, wie der
scheinbar gar nicht demokratische Militarismus. Und doch — die Begriffe „Volksheer“
und „allgemeine Wehrpflicht“ zeigen es schon an — wirkt auch er wie das allgemeine
gleiche Wahlrecht nach derselben Nichtung hin — uniformierend und demokratisierend,
weil vor der Uniform und in der Uniform alle gleich sind und diese alle zu Kameraden
macht. Wir sind alle Wähler und sind alle Soldaten: nur daß bei den letzteren allerdings
der Einjährig-Freiwillige sich den Borzug von Bildung und Besitz doch nicht ganz
nehmen läßt, weshalb die radikale Demokratie diese Einrichtung völlig beseitigen und eine
gemäßigtere Richtung derselben sie gerade umgekehrt erweitern und auf tiefere Schichten
ausdehnen, also demokratischer machen möchte.
In der Parallele zwischen Demokratie und Militarismus liegt aber
auch eine Forderung und Mahnung an die erstere. Wie das Heer nichts
ist ohne Offiziere, so braucht auch die Demokratie ein aristokratisches Element, sie braucht
„Demagogen“, d. h. Volksführer. Die größte Zeit der athenischen Demokratie war doch
die, wo Perikles der unbestrittene Führer seines Volkes war, oder in Rom die Zeit Cäsars,
der seinen großen Namen zur allgemeinen Bezeichnung für den Herrscher eines großen
Volkes und Staates gemacht und dieser Art von Führung seines Geistes Stempel für Jahr--
tausende aufgedrückt hat. Nach Führern suchen daher auch wir auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens und sehnen uns nach solchen. Ee ist bezeichnend, daß in keiner Partei
die politischen Führer so persönlich genommen und so fast gar bpzantinisch verehrt werden,
wie in der demokratischen — sowohl der sozialdemokratischen wie der bürgerlichdemo-
kratischen, und daß jedes Rühren und Tasten an ihrer geheiligten Person dem Außenstehen-
den so übel genommen, jeder Tadel eines solchen vergötterten „Demagogen“" geradezu für
„unverzeihlich“ erklärt wird. Darin steckt zugleich der unverwüstlich monarchische Zug
unseres deutschen Volkes, die Männertreue der Gefolgschaft, die schon Tacitus aufge-
Volksführer.
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