Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
10 Has öffentliche Leben. XII. Buch. 
  
das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes 
überhaupt in Form des gesunden Menschenverstandes als der durch alle in Gestalt 
von Vorurteilen bindurchgehenden sittlichen Grundlage, sowie die wahrhaften Bedürf- 
nisse und richtigen Tendenzen der Wirklichkeit; aber freilich auch die ganze Zufällig- 
keit des Meinens, seine Unwissenheit und Verkehrung, falsche Kenntnis und Beur- 
teilung“. Zn dieser öffentlichen Meinung brodelt und quirlt alles durcheinander, was 
im Volke gefühlt, gedacht, gewollt wird, als ein Durcheinander, das nur in seltenen 
Momenten von selbst zur Klarheit und zur Einmütigkeit kommt. In seltenen Momenten, 
vielleicht am meisten in Zeiten der Not, in Kriegszeiten vor allem. Wir dürfen ja nur 
zurücksehen auf die Tage von 1813 oder auf die uns noch näher liegenden Jahre 1870 
und 1871, wie da aller Herzen zusammenschlugen und aller Wille auf ein großes Ziel sich 
streckte und straffte, aller Gedanken dem einen Vaterland galten; verschwunden war der 
kleine Egoismus der einzelnen, die Selbstsucht der Familien und Stände, der feind- 
selig trennende Partikularismus der deutschen Stämme: wir waren nie besser, nie größer 
und einiger als in jener weltgeschichtlichen Stunde unseres Volkes. Darin zeigt sich zu- 
gleich das Erhebende und Reinigende des Kriegs, der wirklich alles zum Ungemeinen 
erhebt. Oder wie war's beim Untergang des ersten Zeppelinluftschiffes bei Echterdingen, 
den wir als ein uns alle gleichmäßig treffendes nationales Unglück empfanden und den 
gutzumachen darum auch alle in Opfermut und Einmütigkeit gewetteifert haben? 
Aber das sind Ausnahmezeiten und #Alusnahmeereignisse. Für gewöhnlich weiß die 
öffentliche Meinung selbst nicht, was sie meint und will und vor allem nicht, was sie 
meinen und wollen soll. Daher muß es ihr gesagt werden. Und das geschieht — wieder 
ausnahmsweise — durch die großen Männer der Weltgeschichte. „Wer, was seine Zeit 
will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit. Er tut, was das 
Innere und Wesen der Zeit ist, verwirklicht sie; aber“, fügt Hegel weise und tapfer hinzu, 
fwer die öffentliche Meinung, wie er sie hier und da hört, nicht zu verachten versteht, 
wird es nie zu Großem bringen.“ IZn gewöhnlichen Zeiten aber, wo es der öffentlichen 
Meinung an Klarheit und Einmütigkeit fehlt und der große Mann nicht da ist, der ihr 
zum Bewußtsein bringt, was sie will und wollen soll, ist das Parlament ihr Sprachrohr 
und ihr normales Organ. 
Ein Demokratisches ist nun freilich eine Vertreterversammlung, auch wenn sie durch 
das allgemeine und gleiche Wahlrecht zusammenkommt, so eigentlich nicht, sondern ein 
ganz Aristokratisches: die Auslese der Besten soll jedes Parlament sein. Und 
was im Parlament zur Aussprache kommt, ist vielfach nicht das uns Einigende, sondern ge- 
rade umgekehrt das, was uns trennt. Nie tritt dieses deutlicher ins Bewußtsein als bei 
den Wahlkämpfen zu Reichstag, Landtag, Gemeinderat, nirgends wird es lauter zu Ge- 
hör gebracht als in Wahlversammlungen und in den auf Grund dieser Wahlkämpfe 
zustande gekommenen Bertretungskörpern, in denen diese Kämpfe fortgesetzt werden. 
Unser Volk soll „politisiert“ werden! Das ist eine Forderung, ein Wunsch, der neuerdings 
oft und laut genug ausgesprochen wird; und gewiß ist es ein Ziel, dem wir zustreben müssen; 
denn es ist nichts anderes als die Erziehung des Volkes zu staatsbürgerlicher Gesinnung, 
die Bildung für die Staateinteressen überhaupt. Sieht man aber genauer zu, so heißt 
1660
	        
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