Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XII. Buch. Das öffentliche Leben. 11 
  
es im Munde der Fordernden etwas ganz anderes, heißt: unser Volk soll sich Mann für 
Mann in Parteien organisieren und gliedern lassen. Das kommt nirgends deutlicher 
zutage als in dem Verlangen nach Proportionalwahlen, namentlich in der Form der 
proportionalen Listenwahl, wo die Stimme des einzelnen wertlos oder geradezu un- 
gültig wird, wenn sie nicht in einer anerkannten Parteiliste auf- und untergeht: ich darf 
nicht wählen, wen ich will, sondern ich muß wählen, wen die Partei oder ein Bruch- 
teil der Partei, eine Delegiertenversammlung oder ein Parteiausschuß mir vorschreibt. 
Das Parlament nur selten Aus- Wersfo“ * w ledenfalle 4% Fn Narlar 
me ur selten der Ausdruck einer ein- 
druck der öffentlichen Meinung. heitlichen öffentlichen Meinung, für ge- 
wöhnlich vielmehr der Kampfplatz, der sich streitenden politischen Parteien und Partei- 
meinungen. Das ist, wenn die Einheitlichkeit fehlt, freilich notwendig; denn keine 
Partei ist das Ganze und hat allein recht und vollkommen recht, sondern jede ist ein- 
seitig und hat auch unrecht. Darum müssen die Parteien oder ihre Stimmführer in 
Gründen und Gegengründen zusammen das Allseitige und das Ganze zur Aussprache 
bringen und in der Debatte herausarbeiten, müssen sich gegenseitig ergänzen und korri- 
gieren und schließlich in Kompromißbeschlüssen die mittlere Linie suchen, damit nicht 
die Extreme siegen und das Vaterland in Stücke geht. Oder vielmehr — nicht um ein 
Siegen oder Unterliegen sollte es sich bei diesen parlamentarischen Redeschlachten 
handeln, sondern um das Herausstellen aller Seiten einer Aufgabe oder eines Pro- 
blems unseres öffentlichen Lebens und um ein gegenseitiges Uberzeugen. So nur 
wird das streitende Parlament zum Augdruck der Allseitigkeit und des Ganzen. Das 
Verschwinden einer Partei im Parlament, während sie noch Anhänger hat im Volk, 
ist daher stets ein Unglück, und von diesem Gesichtspunkt aus sogar das Proportional- 
spstem zu ertragen. Dabei verhält sich das Einheitliche und das Ganze zum Zerklüf- 
teten und Zerklüftenden wie Ebbe und Flut: es gibt Zeiten, in denen dieses über- 
wiegt und jenes zurücktritt und umgekehrt. Ze näher wir einer großen Zeit stehen, je 
deutlicher uns die Gefahren zum Bewußtsein kommen, die uns von außen her drohen, 
desto mehr pflegt das Parlament diese seine Aufgabe zu erfassen, Träger eines einheit- 
lichen und eines allgemeinen Willens über die Einzelinteressen hinweg und dadurch Bil- 
dungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt zu sein. Deswegen war der Reichstag 
nie größer und leistungsfähiger als in den siebziger Zahren, und war sein Verhalten bei 
der Annahme der großen Heeresvorlage von 1913 so erfreulich würdig und erhebend. 
  
  
Der Reichstag. So pulsiert das öffentliche Leben wirklich im Neichstagals 
dem Organ der öffentlichen Meinung von den politischen Dingen und 
der verschiedenen Parteirichtungen im deutschen Volk. Aber vielleicht fehlt es ihm heute all- 
zusehr an überragenden Führern, und vielleicht fällt eben darum der Akzent doch zu sehr 
auf das parteipolitisch Trennende. Und auf der andern Seite erfährt der Außenstehende zu 
wenig von dertüchtigen und soliden Arbeit, die in den Kommissionen geleistet wird, in denen 
offenbar mehr und mehr das Wertovollste seiner Leistung besteht. Hegel sagt, die Offentlich- 
  
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