Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
12 Das öffentliche Leben. XlII. Buch. 
  
keit dieser VBersammlungen sei „ein großes, die Bürger vorzüglich bildendes Schauspiel und 
das Volk lerne daran am meisten das Wahrhafte seiner Interessen kennen; erst hier ent- 
wickeln sich Tugenden, Talente, Geschicklichkeiten, die zu Mustern zu dienen haben.“ 
Dieser Wert geht verloren, wenn die Hauptsache sich hinter den Kulissen, in verschlossenen 
Kommissionsberatungen abspielt. Und damit hängt wohl auch der Modus unserer Reichs- 
tagsverhandlungen zusammen, daß die paar Stimmführer stundenlange Reden halten, 
durch die sie nicht ihre Hörer überzeugen wollen oder überzeugen zu können glauben. 
An die Stelle der Debatte, des Gealysohar ist das Zum-Fenster-Hinausreden getreten. 
So hat die Stimme des einzelnen kein Gewicht, es kommt nicht an auf das, was er 
sagt, und daß er etwas sagt, höchstens noch darauf, daß er bei der Abstimmung zur Stelle 
ist; auch im Reichstag ist alles Partei; und auch die Partei berät und beschließt hinter 
geschlossenen Türen; wenn öffentlich geredet wird, ist alles schon fertig, und ob einer mit 
Aenschen- oder mit Engelzungen redete, auf die Beschlüsse hat das keinen Einfluß mehr, 
die Abstimmung ist für den einzelnen Abgeordneten in allen wichtigen Fragen partei- 
mäßig festgelegt und obligatorisch; daher wollen so viele selbständige Menschen nicht in 
den Reichstag und kommen die selbständigen Parteilosen dort nicht zur Geltung. So 
sind die Parteien die eigentlichen Träger des öffentlichen Lebens, nicht die einzelnen, 
oder sie nur soweit, als ihr Einfluß in der Partei und auf die Partei reicht. Darin liegt 
so etwas wie ein Widerspruch. Das Parlament ist der Zdee nach die Elite der Nation, 
eine aristokratische Auslese hervorragender einzelner, die — das liegt schon im Worte 
„Parlament“ — reden und raten sollen; in Wirklichkeit tauchen aber diese einzelnen 
alsbald wieder gut demokratisch unter und gehen auf in der Fraktion, sie reden nicht, 
um zu raten, sondern nur um zu reden, und deswegen reden die meisten überhaupt nicht, 
sondern stimmen nur ab, sie sind nicht etwas als einzelne, sondern etwas nur als Mit- 
glieder ihrer Partei und als eine Stimme mehr. 
. Ahnlich und doch anders steht es um die 
O . Aufgaben. 
ie Presse. ghre Aufsaben Presse, in der das öffentliche Leben noch all- 
seitiger und lauter zur Aussprache kommt als in den Reichs- und in den verschie- 
denen Landtagsverhandlungen, so daß sie heute bei dem geradezu fabelhaften Auf- 
schwung des Zeitungswesens in Deutschland recht eigentlich das Spiegelbild und das 
Sammelbecken ist für alles, was zum öffentlichen Leben gehört und in ihm, ponderabel 
oder imponderabel, mitschwingt und pulsiert. Die Zeitung ist freilich ein Gemisch von 
Offentlichem und Privatem und steht ebenso im Oienste des einen wie des andern. 
Der Anzeigeteil, auf dem das Zeitungsgeschäft vor allem beruht und aus dem die 
Zeitung den Hauptteil ihrer Einkünfte bezieht und ihre Herstellungskosten zu zwei Orit- 
teln und mehr deckt, regelt als größte Arbeitsnachweisstelle zwischen Arbeitnehmern und 
Arbeitgebern Nacfrage und Angebot. Man darf ja nur zusehen, wie beim Erscheinen 
der neuesten Nummer eines großen Annoncenblattes die Stellensuchenden bienenschwarm- 
artig sich um die Ausgabestelle drängen, um als erste die Nummer zu erhaschen und da- 
durch auch als erste Bewerber zur Stelle sein zu können. Auch die Reklame hat neben dem 
Plakatwesen, das unsere Städtebilder so abscheulich verunstaltet und gegen seine markt- 
  
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