XII. Buch. Das öffentliche Leben. 23
Konservative je wieder in zwei Parteien zerfallen, ist am Ende noch gerechtfertigt durch
die Weite des Begriffs liberal und konservatio, die eine Scheidung dort in Nationalliberale
und fortschrittliche Volkspartei, hier in Deutschkonservative und Freikonservative natürlich
erscheinen läßt. Dagegen macht es beim Zentrum der autoritative Sinn des Katholiken,
bei der Sozialdemokratie die Kampfstellung begreiflich, daß dort der Gegensatz eines
demokratischen und eines aristokratischen Flügels und der Unterschied der freieren Kölner
und der strengeren Berliner Richtung, hier der Gegensatz der Radikalen und der Revi-
sionisten zu einer Spaltung bis jetzt noch nicht geführt hat. Weitere politische Partei-
bildungen dagegen sind, von zu engen und einseitigen Gesichtspunkten aus, weder be-
rechtigt noch fruchtbar und wünschenswert.
Das Zentrum zeigt durch sein Bestehen, daß neben politischen auch religiöse ODiffe-
renzen und Richtungsunterschiede unser öffentliches Leben beeinflussen und bestimmen.
Daß auch der Katholizismus Gegensätze in sich birgt, habe ich eben angedeutet; sie treten
aber außer in der Zeitungefehde zwischen den Kölnern und den Berlinern mehr nur am
Schicksal einzelner in die Erscheinung; nach außen hin steht er auf seinen Katholikentagen
immer wieder als eine geschlossene und in seiner Geschlossenheit imposante Macht vor
uns, und ebenso hat er im Zentrum seine politische Seite und seinen Machtwillen durchaus
einheitlich verkörpert. Auf katholischer Seite ist die Religion am wenigsten Privatsache, hier
ist die Kirche eine Macht und die Macht. Anders im Protestantismus. Zwar hat der
Unterschied von Reformierten und Lutheranern aufgehört, eine Rolle zu spielen, die Union
ha# sich überall tatsächlich und fast überall auch rechtlich durchgesetzt. Aber über den Begriff
der Kirche und ihr Verhalten zum Staat und über das Dogma und seine Geltung und
Bindung für die Geistlichen vor allem sind hier die Anschauungen weit auseinander-
gegangen, und wenn deswegen von einer kirchlichen Rechten und Linken und von einer oder
gar von zwei Mittelparteien gesprochen wird, so sieht man, wie man lediglich die politischen
Parteibezeichnungen auf das kirchlich-religiöse Leben übertragen hat. Die Erklärung
des sozialdemokratischen Programms, daß Religion Privatsache sei, wird von den Tat-
sachen einfach ad absurctum geführt; und auch die Trennung von Kirche und Staat
würde bei uns in Deutschland gar nichts an der Tatsache ändern, daß das Religiöse und
Kirchliche nicht bloß den Privatmenschen angeht, sondern unser ganzes öffentliches Leben
aufs tiefste bewegt und beeinflußt. Es liegt hier ein Mißverständnis, die Vermischung
zweier Begriffsbestimmungen des Religiösen vor. Religiosität als Frömmigkeit ist natür-
lich ganz nur Sache des einzelnen, und deshalb ist oder sollte doch wenigstens seine bürger-
liche Stellung völlig unabhängig sein von seiner Religion und Konfession und von seiner
persönlichen Stellung zur Kirche, ob er ihr angehören will oder nicht, sich kirchlich betätigen
will oder nicht. Dagegen ist die Religion als geschichtliche und geschichtlich organisierte
und sich fortpflanzende Einrichtung eine soziale und gesellschaftliche Macht, wie es sich
in der Kirchenbildung, dieser größten und umfassendsten Bereinsbildung der Mensch--
heitsgeschichte, zeigt, sofern sie sogar die Schranken des Staates, der Nation, der Rasse
überspringt und bei allen großen Religionen den Trieb zu einer gewissen Universalität
und Weltherrschaft betätigt. So haben wir auch hier wieder eine Synthese von Indivi-
dualismus und Sozialismus. Die Religion ist etwas Privates, die Kirche etwas Soziales
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