Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
24 Das öffentliche Leben. XII. Buch. 
  
und Offentliches. Deshalb ist die Trennung von Kirche und Staat der ZIdee nach wohl 
möglich und vielfach in der Geschichte schon dagewesen: die Schwierigkeiten, die in dem 
Ineinandergreifen der beiden Mächte liegen und beide bedrängen, würden aber bei 
uns durch sie schwerlich behoben oder es würden an die Stelle der vorhandenen nur 
andere neue Probleme treten, die kaum weniger leicht zu lösen wären; ich nenne nur 
das eine, die Frage: Landeskirchentum oder Einzelgemeinden. 
Neben diesen beiden ist dann das Soziale ein drittes Prinzip, das sich in der So- 
zialdemokratie mit dem politischen, bei den Christlichsozialen und in vielen Vereinen 
zur Lösung sozialer und charitativer Aufgaben mit dem religiösen verbindet, aber in den 
Gewerkschaften, den Angestelltenorganisationen und den Arbeitgeber- und Unter- 
nehmerverbänden, in interkonfessionellen Armenvereinen, Jünglings- und Zungfrauen- 
vereinen natürlich auch unvermischt und selbständig auftritt. Dazu kommen die Standes- 
vereinigungen, die die Vertretung einzelner Berufsstände nach außen, die Wahrung und 
Förderung ihrer Interessen und ihre Hebung nach innen auf ihre Fahnen schreiben und 
3. B. im Bund der Landwirte oder im Deutschen Lehrerverein große und machtvolle 
Organisationen geschaffen haben. 
Curner-, Sänger- und Bis 1848 waren die deutschen Turner- und Sänger- 
Schützenvereine. und Schützenvereine — man möchte fast sagen: die 
populärsten Träger des deutschen Einheitsgedankens, und 
ihre großen Feste, das Frankfurter Schützenfest von 1862, das Leipziger Turnfest von 
1863, bielten ihn unter den Volksgenossen vor allem lebendig. Hier fanden sich deutsche 
Landsleute aus Nord und Süd, aus Ost und West zusammen, lernten sich kennen und trotz 
der Verschiedenheit der Dialekte über die engen Landesgrenzen hinweg verstehen. Das 
ist ja heute nicht mehr in dem Maße notwendig wie damals, die deutschen Stämme sind 
flüssiger geworden, die Leichtigkeit des Verkehrs und des Reisens führt jährlich ganze 
Scharen vom Norden in die Alpen oder vom Süden an das Meer; die Offiziere, die Zoll- 
beamten, die Reichstagsabgeordneten — sie alle kommen, wohin sie versetzt werden oder 
wohin sie eine Agitationsreise führt, als Deutsche zu Deutschen; und verwundert sehen 
wir auf, wenn uns ein Berliner in alter vormärzlicher Manier mit der Frage angeht; 
„Sie sind gewiß Süddeutscher: man hört es Zhnen an der Sprache an!“ als ob dieser 
Unterschied heute noch etwas zu bedeuten hätte und dieser Umstand noch der Erwähnung 
wert wäre. Immerhin läßt das Turnfest in Leipzig im erinnerungereichen Zahre 1913 
die patriotischen Herzen auch jetzt noch höher schlagen und gibt Gelegenheit zur Aus- 
sprache und zur Bekräftigung dieser Gefühle; und ebenso dient der Wettstreit deutscher 
Gesangvereine vor dem Kaiser nicht nur der Pflege und Hebung des Volksgesangse, son- 
dern es sind zugleich auch Verbrüderungefeste, die dem nationalen Empfinden zugute 
kommen. Umgekehrt könnte man sagen, das Vereinsleben pflege auch wieder das parti- 
kularistische Stammesgefühl, wenn man sieht, wie in jeder großen Stadt, in der Deutsche 
aus allen Ecken und Enden des großen deutschen Vaterlands zusammenfließen, sich 
Bayern und Schwaben, Thüringer und Mecklenburger, Rheinländer und Sachsen je 
als solche in landsmannschaftlichen Vereinen und Klubs zusammentun und unter den 
  
  
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