Xll. Buch. Das öffentliche Leden. 35
getan, und was Gemeinden und die Privatwohltätigkeit im Bund mit ihnen namentlich
in der Wohnungsfürsorge und in Einrichtungen für körperliche Pflege der Wöchnerinnen
und für Bewahrung und Erziehung der Kinder geleistet hatten, reichte bei weitem nicht
aus, und so ist der staatssozialistische Gedanke immer mehr durchgedrungen, daß im Interesse
der Moral, der gefährdeten Nachkommenschaft und der zu besorgenden Hauswirtschaft
besondere Schutzvorschriften von seiten des Staates erlassen werden müssen. Daß es
dabei an weiblichem Drängen und weiblichem Beirat nicht gefehlt hat, hebt die Tatsache
nicht auf, daß es schließlich doch die Männer gewesen sind, die so für die Frauen gesorgt
haben. Auf der andern Seite wollen wir freilich nicht verkennen, daß manche Männer-
brutalität in unserer Gesetzgebung steckt und durch die Frauen, die darunter leiden,
rascher und gründlicher beseitigt werden könnte, wenn sie direkten Einfluß auf dieselbe
hätten, als dies von einer einseitigen Männergesetzgebung zu erwarten ist. Dagegen be-
weist die Berufung auf Einrichtungen und Errungenschaften in Norwegen oder Finn-
land, in nordamerikanischen Staaten oder australischen Kolonien bei der großen Ver-
schiedenheit der Verhältnisse für uns natürlich gar nichts. Wir Deutsche haben diese
Fragen und Probleme lediglich nach unseren Bedürfnissen und Anschauungen aus uns
selbst heraus und für unser Leben zu lösen und zu regeln.
„Neue Ethik“. Aus dem Gesagten erhellt, wie energisch und wie tief die
Frauenfrage und die Frauenbewegung in das ganze öffent-
liche Leben eingreift. Dagegen müssen wir gerade an dem Punkt, von dem
wir zuallererst ausgegangen sind, dieser Bewegung mit ganz besonderer Vorsicht
gegenübertreten und sie mit ganz besonders feinen Fingern anfassen: ich meine den
Begriff des Nomos im Sinn der Sitte. Es ist in der Bewegung vielfach auch
von einer „neuen Ethik“ die Rede, und manche Frauenrechtlerinnen, vor allem
die Führerinnen der Mutterschutzbewegung, verkündigen mit lautester Stimme, daß
eine solche durch die Mitwirkung der Frau kommen müsse und kommen werde. Wenn
dabei an eine radikale und plötzliche Veränderung und Revolutionierung unserer ethischen,
auf den Nomos im ganzen Umfang seiner Bedeutung sich beziehenden Anschauungen
gedacht wird, so ist das schon deswegen abzulehnen, weil wir in diesen tiefen und unser ganzes
Volksleben tragenden und bestimmenden Fragen und Problemen einen radikalen Bruch
mit dem Geltenden und Bestehenden überhaupt weder wünschen noch herbeiführen
dürfen und sollen, erfreulicherweise auch nicht können. Gerade in der Dauerbarkeit
und Haltbarkeit des Nomos besteht ja sein größter Wert; auf ihr beruht die Stetigkeit
unseres Lebens und die Gesundheit und das Gesundheitsgefühl unseres Volkes. Aber
Dauerbarkeit und Haltbarkeit ist nicht Verknöcherung und Verkalkung und soll es nicht
sein. Davon war ja schon wiederholt die Rede. Die Sitte ist in steter Wandlung begriffen,
und trotz des in ihr steckenden allgemeingültigen und ewigen Kernes ebenso auch die Sitt-
lichkeit, soweit sie mit ihr zusammenhängt. Ein beständiges Differenzieren und Umbilden,
Verfeinern und Raffinieren findet hier statt, neue Aufgaben treten an uns heran und
zwingen vor der Lösung zu tieferem Besinnen und zur Kritik am Geltenden; die Ethik
als Wissenschaft ist eine kritische Wissenschaft. Und das führt denn auch den einzelnen,
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