36 Das öffentliche Leben. XII. Buch.
der auf diese Weise weiter und tiefer sieht, zum Ankämpfen gegen Unvernunft und Miß-
brauch, zum sich Emanzipieren von Veraltetem und zum sich Hinwegsetzen über Schlechtes.
Daß unsere Studenten in der ihnen gewährten Lebensfreiheit und in ihrem Losge-
löstsein vom Elternhaus und von der Heimat, wo man sie kennt, in der fremden Stadt,
wo man sie nicht kennt, sich nicht an die Philistersitte kehren und mit Spott und Ulk oder
mit Trotz und Kühnheit die durch sie gezogenen Schranken rücksichtslos überspringen,
das kommt nicht bloß ihnen selbst für ihre ganze weitere Lebensführung zugut, sondern
ist so etwas wie ein Zungbrunnen für Sitte und Moral unseres Volkes im ganzen, indem
es allen die endlichen und unvernünftigen Seiten des Nomos zum Bewußtsein bringt
und gerade den führenden und leitenden Kreisen immer aufs neue solche zuführt, die ein-
mal wenigstens in ihrem Leben sich auch der Sitte gegenüber frei gefühlt und aufgehört
haben, ihre Knechte zu sein. Das ist das Interesse, das die Offentlichkeit und das ganze
Volk an der Erhaltung der studentischen Lebensfreiheit hat.
Ehe und Geschlechtsverkehr. Daß nun auch unsere Anschauungen über das
Verhältnis von Mann und Frau, über Ehe
und Geschlechtsverkehr in diesen Fluß des Nomos hineingezogen werden und
in beständiger Umwandlung begriffen sind, und daß auch dabei vieles nicht so ist,
wie es sein sollte, darüber ist kein Zweifel. Prostitution, Ehebruch und das Leichtnehmen
mit der Ehescheidung bilden dunkle Kapitel unserer Kultur; und daß die doppelte Moral,
trotz ihrer in der Mutterschaft, also natürlich begründeten Unterlage die Frauen aufs
äußerste empört, ist ihr gutes Recht. Aber daß es besser würde durch Lockerung der Mono--
gamie und Anerkennung des Rechts auf freie Liebe und durch ein besonderes Hegen und
Pflegen und Schützen der unehelichen Mütter und Kinder, die es heute schon vielfach besser
haben als die kindergebärenden Arbeiterfrauen und deren eheliche Kinder, das vermag
ich nicht zu glauben. Deshalb lehne ich diese Art von „neuer Ethik“ und den sie propa-
gierenden Teil der Mutterschutzbewegung ab und meine nach wie vor, daß in dem Fest-
bhalten an der Heiligkeit der Ehe als monogamischer für das sittliche Leben nicht nur, sondern
auch für die Volksgesundheit und Volksvermehrung, für den Schutz von Müttern und Kin-
dern am besten gesorgt sei und mit ihr allein das Heil der Nation bestehen könne. Dieses
Festhalten ist keine Heuchelei und kein Vergessen des Tatsächlichen mit seinen vielen übeln
Ausnahmen und schwarzen Schatten, sondern eine sittliche Forderung, die allen Menschlich-
keiten und Häßlichkeiten zum Trotz immer wieder erhoben werden muß, ein Ideal nicht als
ein weltfremdes und verlogenes Schönfärben, sondern als eine unendliche Aufgabe, der wir
uns freilich immer nur annähern können, der wir aber auch stetig näher kommen müssen.
Biel mehr Heuchelei scheint mir in der Behandlung der Prostitution und in anderer
Weise in der des Zweikampfes zu liegen. Indem dort die Polizei mit der einen Hand regle-
mentiert, was durch das Strafgesetz mit der anderen verboten wird, oder hier mit der
einen Hand erzwungen wird, was doch gesetzlich bestraft werden muß, verwirren sich die
Rechtsbegriffe und leidet das Rechtsbewußtsein des Volkes Not. In beiden Fällen
schiene mir ein Uares Entweder-oder so oder so für unser öffentliches Leben ersprieß-
licher als das einfachem Sinn unverständlich bleibende Sowohl-als-auch.
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