40 Das öffentliche Leben. XII Buch.
wir das Bildungsniveau eines Volkes zu werten, haben wir gefragt; nach dem Stand
der allgemeinen Volksbilbung, die immer auf Durchschnitt und Mittelmaß, um nicht zu
sagen: Mittelmäßigkeit berechnet ist und darum keine allzu hohe sein kann und sein darf,
oder nach der Bildungshöhe der gebildetsten, der intellektuell und moralisch, ästhetisch
und religiös höchststehenden einzelnen? Es ist das alte Problem, das uns immer wieder
entgegentritt: Einzelne und Individuen oder Massen und Volk im ganzen? In-
dividualismus oder Sozialismus? das ist die Frage auch hier. Aber gerade hier
zeigt sich uns auch die einzig mögliche Lösung. Beides, ist natürlich die Antwort. Nämlich
so, daß die höchstgebildeten Individuen zunächst einmal an sich selber denken und für sich
selber sorgen. Daß der Künstler, der Forscher immer ein Einsamer und ein auf der Mensch-
heit Höhen wandelnder Vornehmer ist, das ist die aristokratische Einrichtung aller Kultur.
Aber wenn sich der einzelne so emporgebildet hat zur Höhe, dann tritt nun auch die Pflicht
an ihn heran, an andere, an das Volk und an sein Volk zu denken. Genie ist schenkende
Tugend, sagt Aietzsche; dieses Wort drückt aus, was wir meinen. ZJeder, der sich bildet,
bildet sich nicht nur für sich, sondern auch für andere. Der Schriftsteller, der Künstler,
der Dichter, der Gelehrte, der Erfinder — sie alle denken und haben zu denken an die
Sache, in deren Dienst sie stehen und die immer eine überindividuelle ist. Diese Sache
aber, heiße sie nun Wissenschaft oder Kunst oder wie sonst immer — ist nicht um ihrer
selbst willen in der Welt: P’art pour TPart ist ein ganz törichtes Wort. Wie der Sabbat um
des Menschen, nicht der Mensch um des Sabbats willen da ist, so sind auch alle diese
Überindividuellen Kulturgüter um des Menschen, in erster Linie um eines bestimmten
Volkes, im weiteren um der ganzen Menschheit willen und für dieses Volk und für die
Menschheit da. Der große Erfinder weiß das und gibt es zu. Der Künstler wird es zu-
nächst nicht anerkennen wollen: er schafft, wie sein Daimonion ihn treibt, und denkt dabei
um so weniger an das Volk, je genialer und origineller sein Werk zu werden verspricht;
er füblt sich als Einsamer, sein Leid und Lied ertönt der unbekannten Menge, ihr Beifall
selbst macht seinem Herzen bang; gerade das Tiefste und Eigenartigste daran kann sie
ja doch nicht verstehen. Und trotzdem steht auch bei dem Einsamsten und Stolzesten im
Hintergrund die Hoffnung, daß er durch sein Werk die anderen zum Verstehen und
zum Mitgehen erziehen und in seine Bahnen zwingen werde.
Er will und soll aber auch ausdrücklich im Sinn des Schillerschen Wortes auf das
Volk wirken:
Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben: bewahret sie!
Sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben.
So ist er ein Oiener des öffentlichen Lebens oder, wenn er lieber will, ein Priester
und Hohepriester desselben. Dazu ist er aber auch um deswillen verpflichtet, weil er
auch seinerseits von diesem öffentlichen Leben beeinflußt ist als ein Sohn seines Volkes
und seiner Zeit. Daß in der TAra Bismarck die Kunst realistisch wurde und unter Kaiser
Wilhelm II. eine Neuromantik aufkam, und daß unsere Baukunst in einer mehr wissen-
schaftlich als künstlerisch hoch entwickelten, mehr suchenden als besitzsicheren Periode
eklektisch nach einem Stil sucht, das sind alles Beweise für die tausend und abertausend
unterirdischen Zusammenhänge zwischen Kunst und öffentlichem Leben. Und will man
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