Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
6 Nudcblic und Ausblic. Schlußwort. 
  
würde der lebenden Generation schlecht anstehen, die Rolle des kühlen Beobachters zu bean- 
spruchen angesichts einer Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist, an der jeder Lebende 
im Großen oder im Kleinen seinen Anteil hat. Die zurückliegenden Zahrzehnte waren 
Bewegung überall, und es ist kaum ein Gebiet, auf dem die Bewegung nicht in neue, bis- 
her unbekannte Richtungen gelenkt ist, es ist kein Gebiet, auf dem die Bewegung so zur 
Ruhe gekommen ist, daß wir sie in allen Folgen beurteilen können. Eins aber wissen 
wir, daß wir vorwärts und zum Ziele müssen auf den Wegen, die wir heute gehen, die wir 
bisher gegangen sind. Unendlich viel wichtiger, als die doch immer individuelle lund darum 
partei#lsche) Antwort auf die Frage, ob das Getane gut war oder schlecht, ist das mannhafte 
Bewußtsein der Tatsache, das dies Deutschland, wie es auf Grund großer Vergangenheit 
geworden ist unter der Regierung Kaiser Wilhelms ll., der Stoff und der Boden ist für 
alle unsere künftige nationale Arbeit. Die nahe Vergangenheit ist zugleich unsere nächste 
Zukunft. Wir können auf die Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts nicht zurück- 
blicken, ohne gleichzeitig gezwungen zu sein vorwärts zu schauen auf die Entschließungen 
und Ereignisse, die durch die Leistungen der jüngsten Zeit vorbereitet und notwendig 
geworden sind. Die Geschichte unserer Zeit in diesem Werke zeigt, was gestern geschehen 
ist, um hinzuweisen auf das, was morgen getan werden muß. Sie ist Rückblick und Aus- 
blick zugleich. 
Lange, selbst fruchtbar und reichbewegte Friedenszeiten, in denen die letzte große 
Probe auf die Tüchtigkeit der neuen Zeit, auf die Brauchbarkeit der neuen Ordnungen 
und Errungenschaften nicht erlebt wird, sind nicht dazu angetan, eine fest bejahende, zu- 
versichtliche nationale Stimmung zu erzeugen. Der leidenschaftliche, vorwärts drängende 
Patriotismus entbehrt schmerzlich die Gelegenheit zu großzügiger Einsetzung der natio- 
nalen Kräfte und des nationalen Willens, findet an den Kämpfen des Tages im Innern 
immer weniger Genügen, hängt sich mit wachsender Liebe an die großen Erinnerungen 
und sieht im Vergleich mit der tatenreichen Vergangenheit die arbeitsreiche Gegenwart 
lleiner an, als sie verdient. Die an sich oppositionellen Strömungen können den Hebel 
der Kritik um so wirksamer an das Bestehende setzen, je länger ein großes Ereignis auf 
sich warten läßt, das im Erfolg den Wert erweist dessen, was geworden ist. Diese beiden 
Quellen des nationalen Skeptizismus und Kritizismus sehen wir auch heute nach 44 
Friedensjahren reichlich fließen. Unbewußt arbeitet der beste patriotische Wille, der sich 
gehemmt fühlt und nach Entfaltung sehnt, den Elementen in die Hände, die den natio- 
nalen Aufschwung hemmen wollen. Der Erfolg ist am Ende jenes Mißtrauen in den 
Wert der eigenen Zeit und Leistung, das, so oft es auch in einem Volke mächtig war, noch 
immer untüchtig gemacht hat zu großer nationaler Kraftentfaltung. So unberechtigt 
und gefährlich nationale Selbstüberhebung ist, so berechtigt und heilsam ist ein festes 
nationales Selbstvertrauen. Und solches Selbstvertrauen kann immer nur eine Genera- 
tion besitzen, die weiß, daß sie Tüchtiges geleistet hat. In diesem Sinne ist auch der Kaiser 
nicht müde geworden, einem gesunden Optimismus das Wort zu reden. Denn ein in 
verzagenden Pessimismus versinkendes Volk wird matt und leer in der Seele, und 
allmählich unvermögend die hohen deale seines geschichtlichen und geistigen Lebens zu 
erfassen. „##lle Machtentfaltung nach außen hin, alle Erfolge der Technik und Industrie 
1700
	        
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